Gottesferne — Gottesnähe


Gottesferne — Gottesnähe

25.07.2017

 

In seinem Werk „Der Stimme der Mystik lauschen“ (Kösel, 2005) zitiert Gerhard Wehr am 14.Juli aus dem Werk von Madleine Delbrel (1904-1964). Diese macht, wie viele Ordensleute und Mystiker/-innen die verwirrende Erfahrung, dass der Gott-Suchende sowohl Zeiten höchster Innigkeit mit Christus (mit Jahwe/Jehova, mit Allah, …) kennt — „das blendende Hingerissensein unseres ganzen Ich zu Gott“ (ebd.) — als auch Zeiten des tiefsten Zweifelns und Zweifels — „den lebendigen Glauben, …, den man ‚das schwarze Licht‘ genannt hat“ (ebd.). Es ist, als ob mit jedem weiteren Aufstieg zu Gott ein umso jäherer Absturz ins Bodenlose der Spiritualität einherginge. Als ob sich das Pendel der Gottes-Schau abrupt in ein Pendeln des Fraglichen, des Zweifelnden, des in-die-Irre-Gehenden verkehren würde. Dem „Gesetz des Tages“ steht unentrinnbar „die Leidenschaft zur Nacht“ gegenüber (vgl. Karl Jaspers, Philosophie III, S.102ff.). Bernhard von Clairvaux (um 1090-1153) kannte und fürchtete diesen Umschlag der Freude in Gott in jähe Todes-Angst. Der spanische Mystiker Johannes vom Kreuz (1542-1591) durchlebte auf seinem Pilger-Weg jene „Dunkelheit des Glaubens“, dieses „schwarze Licht“, die er in seinem Gedicht „Die dunkle Nacht der Seele“ meisterlich besang sowie in seinen Schriften „Aufstieg zum Berge Karmel“ prägnant beschrieb. Stets folgt auf die ek-statische Erfahrung der Umschwung in eine rätselhafte, düstere Depression. Der Sehnsuchts-vollen Fragwürdigkeit nach Gott folgt „auf dem Fuße“ die Fraglichkeit Gottes. Fragen wie etwa: „Findet mein Tun Gnade vor den Augen Gottes?“ (Solche Fragen trieben Könige und Kaiser wie etwa Karl den Großen um, Mönche und Kleriker wie den eingangs genannten Bernhard von Clairvaux, oder, weil wir seiner in diesem Jahr besonders gedenken: Martin Luther und andere Reformatoren.) Oder es sind Fragen wie: „Bin ich kleiner Mensch denn überhaupt Wert, von Gott geliebt zu werden; bin ich seiner Liebe würdig…?“ Fragen des Zweifels wie auch der massiven Selbst-Entwertung. Aber immer ist es, als ob das mystische Heraus-Gehoben-Sein (gr. ek-stasis) aus den Ebenen des Menschlich-Allzumenschlichen, dieses Heraus-Stehen in den Bereich Gottes, gleichzeitig mit den dunkelsten Abgründen menschlicher Existenz verbunden sei, oder doch mit diesen unmittelbar kor-respondiere. Einer Sanduhr gleich, durch deren „Wespentaille“ der Sand bald in diese, bald in die entgegen-gesetzte Richtung fließt, je nachdem, wie man die Sanduhr gerade hält.

Es wirft sich die Frage auf, ob die vom mystischen Menschen gespürte „Gottesferne“ tatsächlich eine Ferne Gottes zum Fragenden, zum Suchenden ist. Oder ob Gott nicht gerade in dieser vermeintlichen Ferne dem Suchenden gänzlich nahe ist. Fassen wir „Ferne“ als eine Bewegung fort von unserem Stand-Punkt, fort von unserem Stand-Ort, fort von unserer Position auf, so scheint Gott sich umso mehr von uns zu entfernen, je nachdrücklicher und disziplinierter wir ihn suchen. Gott scheint sich unserem „Zu-Griff“, unserer An-Näherung, unserem Nahen und Nähe zu entziehen. Gott wird zum „deus abs-conditus“, zum „sich verbergenden“, zum „sich abkehrenden“ und auch „abwehrenden“ Gott, zum „sich abwendenden“ und deshalb „abwesenden“ Gott, zum stets „anderen Gott“ (als er in unseren Vorstellungen begriffen wird). Denn es sind unsere verstellenden Vorstellungen von Gott, die die eigentliche Ferne und Dunkelheit verursachen. Dann wird jedoch das „Göttliche Licht“ umso dunkler, je intensiver und sehnsüchtiger wir es zu erreichen suchen. Schließlich wird es „undurchdringliche Nacht“ — unser spiritueller Geist, unsere Glaubens-Wirklichkeit, vermag weder dieses Dunkel, das er selber geworden ist, auf-zu-heben noch auf irgendeine uns vertraute Weise zu „erhellen“. Er (unser Geist) ist uns zum „spirituellen Schwarzen Loch“ geworden, das keinerlei „Licht“ noch Bewegung „nach draußen“ entkommen lässt. Exemplarisch im Bild der Golgotha-Nacht uns „vor Augen gestellt“; in den „letzten Worten Jesu“  mustergültig beschrieben: „mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen…—?“ (vgl. Psalm 22) Höchster Glauben — als Erleben und Durchleben tiefster Finsternis und „Nacht“.

 

Erfahren wir jedoch „Ferne“ und „Entfernung“ im Sinne einer „Ent-Fernung“, also als eine kontinuierliche Wegnahme und Verringerung der Ferne, als eine Minimierung von Distanz, so wird uns auf diesem Wege Nähe erlebbar und bleibt erfahrbar. In dieser Bewegung — gleichsam aus der Ferne auf uns zu, von der Ferne zu uns her — wird die größtmögliche „Gottesferne“ zur unmittelbaren Nähe Gottes in uns. Unsere Ferne wird in der Umkehrung zu seiner Nähe. Unsere spirituelle Wirklichkeit wird von der „Göttlichen Wirklichkeit“ aufs Innigste durchdrungen. Oder wie es Dietrich Bonhoeffer fasste: der lebendige Christus lebt in uns fort. Oder, nochmals anders gewendet, wie es Gerhard Wehr in seinem Kommentar zum 16. Juli (Buddha-Zitat) „auf den Punkt“ bringt: „In der Tat fällt die Entscheidung durch Selbsterkenntnis, durch Selbstbetroffenheit. Denn was soll ein Gotteswort, wenn es mich nicht in der Tiefe meines Wesens anspricht? Was eine Erfahrung, die mein Leben nicht bereichert, nicht verändert?“ (ebd., S. 215)

Die konkrete Erfahrung des Numinosen als das gestaltlos Göttliche im Menschlichen reicht quer durch alle Zeiten, verbindet alle Kulturen, ist das einende Band aller Religionen. Seit es Menschen gab und solange es Menschen geben wird, die Menschen geblieben sind, wird es jene Gottes-Frage, jene Gottes-Suche und jene zwei-lichtige Gottes-Erfahrung im Menschen geben. Denn sie ist fortwährender Auftrag, Sinn und Ziel menschlicher Existenz. Es gilt unsere Lebens-Spanne dafür zu nutzen, um einer-seits sich selbst zu erkennen („Was bin ich?“ [„Dasein“], „Wie bin ich?“ [„Bewußtsein“], „Wer bin ich?“ [„Existenz“], in der Terminologie Karl Jaspers). Wie es anderer-seits ineins gilt, durch unsere Alltäglichkeit hindurch einen Weg zu bahnen, dorthin, wo unsere spirituelle „Quelle“ hervorquillt und unser existentieller Ursprung spürbar anwesend ist. Oder, wie es Karl Jaspers an verschiedenen Stellen seines Werkes formulierte: Unsere Existenz steht vor Transzendenz, von der sie sich geschenkt weiß (vgl. Karl Jaspers u.a. „Von der Wahrheit“, S. 49, 76ff.).

Auf dem Pilger-Weg der Gottes-Suche erfährt der Mensch einerseits ein helles „Licht“ der hinreißenden Liebe, die sich in mystischen Gedanken und Hymnen wie auch Gedichten offenbart (vgl. z.B. Kabir, 1440-1518). Dort ist ihre An- und Aus-Sprache im Bereich des Menschen. Dort, in der Sprache des Menschen, bezeugt sie ihre An-Wesenheit dem Menschen als „Chiffren der Transzendenz“ (vgl. Karl Jaspers). Dieses helle „Licht“ eint — nicht nur die Menschen untereinander, sondern alles, was jemals „göttliche Schöpfung“ geworden ist. Hier begegnet menschliche Wirklichkeit göttlicher Wirklichkeit. Hiervon unterschieden, gibt es andererseits ein dunkles, finsteres „Licht“, das sich aus den verstellenden Vorstellungen des Gott-Suchenden ergibt. Diese Dunkelheit bezieht sich noch immer auf das Numinose, das der Gott-Sucher nach bestem Wissen, Kräften und Können zu „erhellen“ sucht, jedoch paradoxerweise gerade durch seine eigenen Bemühungen und Anstrengungen beständig verdunkelt. Das ist die „dunkle Nacht der Seele“ des Johannes vom Kreuz.

Hiervon zu unterscheiden ist jedoch ein „Licht“, das ich das Licht der „menschlichen Nacht“ nennen möchte. Es ist jenes pechschwarze „Licht“, das sich als Neid und Hass, das sich als Zwist (gr. pólemos), als Krieg, das sich in allen Formen menschlicher Gewalt dar-stellt, ausformt und ausgestaltet. Dieses zerstört, vernichtet, rottet Gnaden-los alles Andere aus. Hier begegnet der Mensch in seiner Wirklichkeit nicht mehr einer anderen noch göttlichen Wirklichkeit, sondern ausschließlich sich selbst in seinen geistigen (z.B. ideologischen) wie auch geistlichen (z.B. religiös-fanatischen) Ab-Gründen. Wie „eros“ und „thánatos“ spiegeln diese menschlichen Wirklichkeiten die Ambivalenzen menschlichen Daseins, diese rätselhafte Dualität unserer „Existenz“, wider. Sie sind uns Menschen zu eigen, wie die Tatsache, dass unser Körper aus Materie und Form, unser Geist aus Bewusstsein und Gedanken, unsere Seele jedoch aus Wirklichkeit besteht. Der Mensch ist also nicht nur „ein Wanderer zwischen den Welten“ und „ein Pilger zwischen Tag und Nacht“, sondern als Existenz ein Lebe-Wesen aus tausenden von „Ebenen“ wie auch hunderttausenden von „Abgründen“.

 

Wen das philosophische Pendant des „Ent-“ interessiert, der sei auf die Terminologie und das Denken Martin Heideggers verwiesen (vgl. u.a. „Ent-Bergung“, „Lichtung“, „a-letheia“, etc.pp.)

 

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