gnothi seautón — erkenne Dich selbst
Vom alltäglichen Handeln im Angesicht des Todes
12.01.2016 (überarbeitet: 16.09.2016)
Des Menschen Maß ist Vergänglichkeit, Sterblichkeit, und als letzte Lebens-Erfahrung: der Tod. Anders als es uns die moderne, meist rein technisch-mechanisch gedachte Auslegung des Homo-mensura-Satzes des Protagoras (490-411 v. Chr.) nahelegt — dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind — ist der Mensch nicht primär der erschaffende Schöpfer, der Macher, der Verfertiger, der homo faber, sondern zuerst und zunächst ein Sterblicher. Denn seine Vergänglichkeit, sein Sterben in den je eigenen Tod hinein, ist sein Wesens-Merkmal, sein Kenn-Zeichen, seine Chiffre. Der Mensch — als einziges “Tier“ — wohnt bewusst oder unbewusst im Hause des Todes. Seine Chance besteht darin, sich selbst dieser Tatsache und Realität bewusst zu werden. Er hat ein Leben lang Zeit hierfür. Lebens-Zeit als Erkenntnis-Zeit. Er kann jedoch — als Gegenentwurf zu dieser Geistes-Haltung — sich selbst diese Endlichkeit des je Eigenen verdunkeln und etwa eine hedonistische Lebens-Führung wählen. Dann gestaltet und lebt er seine Lebens-Zeit unter einem Motto wie diesem: “Die höchste Lust ist mir das Wahre“, oder aber “Mein Leben sei eine einzige Party“, oder “Ich will Spaß…“. Aber: Diese Lebens-Entwürfe werden im Bewusst-Sein des sicheren Todes — und zwar jenes Todes, der mich ganz persönlich und ganz allein treffen wird — versagen. Denn sie tragen schon als Lebens-Entwurf nicht. Aus dem offenen System einer Jagd nach höchster Lust, wird unmerklich die Krankheit und die Unfreiheit einer Sucht werden. Denn an jeder erreichten Grenze seiner Lust wird ein solcher Mensch gezwungenermaßen versuchen, noch ein “plus“, ein “noch mehr“ daraufzusetzen. So verkehrt sich unmerklich Lust in Unlust, Freude in Schmerz, anfangs Gutes in letztendlich Schlechtes, Freiheit jedoch in krankhafte Unfreiheit eines bitteren Zwanges. Als Beispiele hierfür können Lebens-Realitäten wie etwa Internet-Sucht, Spiel-Sucht, Nikotin-Sucht, Alkohol-Sucht, Sex-Sucht, aber auch Lebens-Wirklichkeiten wie etwa Arbeits-Sucht, Macht-Sucht, Geltungs-Sucht, u.a.m. dienen. Wir alle kennen Menschen, die in solchen Lebens-Erfahrungen festgefahren und verfangen sind.
Worin könnte nun die Chance des Menschen bestehen, wenn er einen anderen als den hedonistischen Lebens-Entwurf verfolgen und sich über die Vergänglichkeit seines eigenen Lebens (wenigstens ansatzweise) bewusst werden würde. Wie verändern sich Lebens-Perspektive und Lebens-Sinn, wenn wir die Endlichkeit unseres Werdens bedenken? Wie blicken wir dann auf unsere eigene Vergangenheit, Gegenwart und verbleibende, aber dennoch endliche Zukunft. Nun, einerseits werden wir der “totalen Machbarkeit“ unseres Lebens enthoben. Wo eben noch Grenzen-lose Freiheit herrschte und damit in eins auch die schiere Unmöglichkeit zur “richtigen Entscheidung“, oder wie Nietzsche es sagen würde, dieses dahintaumelnde, freie Fallen nach allen Seiten, dort wird uns faktische Grenze. Die faktisch unaufhebbare Grenze des Todes, u.z. als dem je eigenen. Dies ist allgemein negativ konnotiert. Denn instinktiv will jeder Mensch leben, u.z. für immer und “ewig“. Ob dies jedoch wünschenswert wäre (Stichwort Krankheit, Schmerz und Leid bzw. Leiden), lassen wir offen.
In Zeiten der Umwälzungen, der Umbrüche, der Umstürzungen, da tradierte Werte und Vorstellungen obsolet zu werden scheinen — sie werden ja durch “neue Werte“ ersetzt; aber wollen wir diese neuen Werte überhaupt? (Stichwort Globalisierung; totale Vermarktung aller Werte, auch der ideellen…) — mag die faktisch unaufhebbare Grenze des Todes auch so etwas wie ein erster “Halt“, ein erster Anhalt sein. Wenig trösten vermag uns jedoch die Einsicht, dass nicht nur wir selbst entstehen, werden und vergehen, sondern weitaus mächtigere “Institutionen“ wie etwa “Epochen“ / “Zeitalter“, “Kulturen“, “Gesellschaften“ und sogar “Wirtschafts-Systeme“ mitsamt ihren “Märkten“.
Worin könnte also ein möglicher Sinn bzw. so etwas wie ein erster Trost im ersten “Halt“ bestehen? Im sog. “Paradigmen-Wechsel“. In der Ab- und Umkehr von trügerischen “Werten“, die uns in unserem Alltag, die uns in unserem je eigenen Leben weder Halt bieten, noch uns in Krisen-Situationen zu tragen vermögen.
Wie könnte dieser Beispiel-Wechsel in etwa aussehen? Zum Beispiel so, dass wir uns eingestehen können und auch dürfen — eben weil wir Menschen sind und damit ineins un-vollkommen — dass wir gerade nicht “das Maß aller Dinge“ sein können und dies auch faktisch nicht sind. Es aber auch gar nicht zu sein brauchen. Welch eine Hybris entbirgt sich in der Fehlinterpretation dieses einen Satzes. Und es gibt viele davon. (Vergleiche etwa die moderne, rein technisch-mechanische Fehlinterpretation von 1 Mos, 1,28f, die heute noch für die Ausbeutung der Erde [Stichwort: Vermüllung der Weltmeere; Treibhausgase, u.ä.m.], der Tiere [Stichwort: Klonen, Massentierhaltung, u.ä.m.], wie auch der Menschen selbst [Stichwort: Kindersklaven, Pharmasklaven, u.ä.m.] herhalten muss.)
Und im Raum unserer Leistungs-Gesellschaft, dass wir nicht immer und auch nicht überall auf “Platz 1“ des Sieger-Treppchens zu stehen brauchen, und doch Sieger sein können. Denn dieser Leistungs-Druck — immer und überall der/die Beste sein zu müssen, d.h. in jeder Situation (= immer) wie auch in jedem Themen-Bereich (= überall) — ist nicht nur krankmachend, er ist vor allem zerstörerisch bis in den Suizid. Zum Sieger-Sein gehört unabdingbar die Kehrseite dieser “Medaille“: dass wir auch Verlierer sein dürfen (Box-Legenden wie etwa Muhammad Ali oder Henry Maske bestätigen diese Grunderfahrung aller Mensch-Werdung). Zum Lebens-Entwurf des “Siegers“ gehört die unaufhebbare Wirklichkeit, Verlierer sein zu können und dies auch sein zu dürfen. Wahrhaft siegt, wer sich selbst als Verlierer annehmen kann, nicht liegen bleibt, sondern wieder aufsteht und erneut “von vorne“ beginnt. Die wahren “Helden“ und eigentlichen Sieger unseres Alltages sind folglich all jene Menschen, die trotz Verluste, trotz Schicksalschläge, trotz Niederlagen es immer wieder schaffen, aufzustehen, um weiterzumachen.
Wenn nun “trügerische Werte“, ja betrügende “Werte“, wie etwa Hab-Gier (d.i. die Gier nach all jenen “Gütern“, die man zwar haben kann, indem man sie käuflich erwirbt, die jedoch nicht eigentlich gut sind oder ein Gutes [agathós] sind), Geiz, Egoismus, Grausamkeit und mitleidlose Härte, fanatischer Fundamentalismus und Dogmatismus, u.a.m. unser Leben nicht tragen können, uns in Krisen-Situationen nicht bewähren noch halten können, was könnte dann — im Angesicht des je eigenen Todes — etwas Verlässliches, etwas Haltgebendes, etwas Schützendes und Bergendes (Geborgenheit) bieten? Vielleicht sind es Beispiele von gelungenem Leben anderer Menschen.
Welche Werte ermöglichten es etwa einem “Sokrates“ ein gutes Leben zu gestalten (trotz des Schierlingbechers an seinem Lebens-Ende)? Welche Werte ermöglichten es den Stoikern ein sinnvolles Leben zu führen? Welche Werte prägten und gestalteten die verschiedenen Leben der Propheten (quer durch alle Religionen)? Welche Werte leiteten die Lebens-Wege der “Humanisten“ und “Reformatoren“? Welche Werte wurden etwa einem Mahatma Gandhi, dem Dalai Lama, einer Ruth Pfau, einer Mutter Teresa, oder einem Roger Schutz zur Lebens-Grundlage, die sie durch alles partikulare Scheitern und Zweifeln hindurchtrugen und ihr Leben — selbst noch im eigenen Tod (en passant: Gandhi und Schutz wurden ermordet…) — gelingen ließ? Welche Werte lassen etwa eine Jane Goodall Tag für Tag weiterreisen? Welche Werte stärken Vandana Shiva “den Rücken“ und lassen Malala Yousafzai täglich auf dem “Feld“ der Gleichberechtigung für Mädchen und Frauen weiterarbeiten? Es sind ideelle Werte — Tugenden etwa.
Ja, wird man mir nun abwehrend ins Wort fallen: Diese Menschen waren ja auch alles “Titanen“, das sind ja “Prototypen“, ein jeder und eine jede für sich ein “singulare tantum“, ganz und gar un-vergleichlich! So ein Mensch bin ich ja doch gar nicht. Richtig. Die Meisten von uns sind keine “herausragenden Persönlichkeiten“. Wir führen ein völlig durchschnittliches, unspektakuläres Leben. Und sicher, auch dies soll anerkannt werden: der Lebens-Weg dieser Prototypen-Menschen war/ist herrausragend aus unserem Alltags-Niveau. Allein, ihre Werte waren/sind es nicht. Denn: Anstatt Habgier lebten sie materielle Armut (bei gleichzeitigem ideelen Reichtum), anstatt des Geizes lebten sie Miteinander-Teilen- und auch Schenken-Können, anstatt Egoismus lebten sie Gemeinschaft und Solidarität, anstatt Grausamkeit und mitleidloser Härte lebten sie Barmherzigkeit, anstatt lebensfeindlichem Fundamentalismus lebten sie ein sich selbst erweiterndes Denken, anstatt eines blinden Dogmatismus‘ lebten sie Nachsichtigkeit und Güte. Dass sie Männer und Frauen waren/sind, ist hierfür unerheblich. Denn wesentlicher als Mann-Sein und Frau-Sein war/ist für sie das Mensch-Sein. Erst das gemeinsame Mensch-Sein eröffnete den universellen Handlungs-Raum über alle Alters-Grenzen, über alle kulturellen Grenzen, über alle politischen und religiösen Grenzen, über alle egoistischen Grenzen hinweg.
Aber das ist ja völlig unmöglich zu leisten, höre ich nun einen vielhundertstimmigen Chor der Einwände aufschreien. Nein, ist es nicht. Auch “Titanen“ fingen einmal klein an. Damals, in ihrer Kindheit, waren sie für die „Schlagzeilen der Weltöffentlichkeit“ ebenso unbedeutend wie wir es heute sind — keine “Superstars“ und auch keine “Wunderkinder“. Und als “Verlierer“ dürfen auch wir klein anfangen: hier ein Lächeln, das erwidert werden wird; dort eine offene, eine grüßende Hand (anstatt eines Hitler-Grußes oder einer geballten Faust, die sich gegen Flüchtlinge und Andersgläubige reckt); hier eine freundliche Geste (z.B. einem anderen Menschen den “Vortritt“ lassen); dort einem (alten, fremden) Menschen in seiner Situation helfen; hier seine Stimme gegen Ungerechtigkeit erheben; dort nicht wegschauend Missstände in Staat und Gesellschaft mutig benennen, notfalls auch öffentlich anprangern; hier sich bewusst ernähren (anstatt “Fast-Food“ der Agrar-Konzerne [vgl. Bayer-Monsanto] regionale, biodynamische Lebens-Mittel kaufen; anstatt hastiges hinuterschlingen bewusst essen, vielleicht sogar genießen), dort den eigenen Neigungen maßvoll widerstehen. Diese “To Do“-Liste lässt sich beliebig verlängern. Jeder Mensch kann dies leisten. Im Einzelnen jeweils nur Kleinigkeiten, gerade groß genug für “kleine Leute“. Aber in der Summe, im Ganzen der Wirkung, die uns umgebende Realität in Richtung “Menschlichkeit“ verändernd. Mehrere tausend Jahre Religions- und Philosophie-Geschichte lassen sich von einem einzigen Menschen-Leben nicht ausschöpfen. Sie können für uns jedoch eine Quelle immerwährender Lebens-Impulse sein.
Und was dürfen wir uns von solchem Verhalten erhoffen? Nun, dass wir schon vor unserem eigenen Tod tagtäglich die “Früchte“ unseres eigenen Verhaltens ernten und genießen können. Ganz ähnlich des Horaz-Wortes carpe diem! — pflücke oder genieße den Tag! Denn wer Gutes tut, dem wird auch Gutes begegnen; wer freundlich zu seinen Mit-Menschen ist, dem wird Freundlichkeit zuteil; wer redlich handelt, der wird Respekt empfangen.
Es sind nur einige ideelle Werte (z.B. Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, Freundlichkeit, Treue, Güte, Respekt als Achtung vor dem Anderen und Achtung des Anderen, “Pietät“, als die Fähigkeit zu gegenseitigem Verstehen, u.a.m.), die noch vor wenigen Jahren Gültigkeit und Geltung besaßen, bevor sie im Zeitalter der heutigen Decadence scheinbar ihren Sinn verloren. Dennoch sind es ebendiese Werte, die den Zusammenhalt jeder Gemeinschaft ermöglichen und garantieren. Und ist nicht ein solcher Mensch glücklich zu nennen, der schon zu seinen Lebzeiten den “redlichen Lohn“ für ehrliches Tun empfängt? Nicht aus “himmlichen Sphären“, nicht aus Jenseitigem, sondern ganz diesseitig aus der Lebens-Gemeinschaft seiner Mit-Menschen…—
Jedoch: Alle ideellen Werte ziehen ihre Wirk-Kraft, ihre Überzeugungskraft daraus, dass Menschen sie in authentischem Handeln bewähren. Werden ideelle Werte nicht vorgelebt, in Situationen unseres Alltags bewahrt, so scheinen sie, als ob sie nicht wären. Wird etwa Redlichkeit nicht im Alltag vorgelebt, in konkreten Situationen als Ideal beglaubigt, so kann es uns scheinen, als ob sie nicht wäre — denn dann fehlt diesem Wert die gestaltende Durchsetzungs-Kraft in der jeweiligen, geforderten Situation. Werden ideelle Werte nicht gelebt, so kann es uns scheinen, als ob sie lediglich Hirngespinste, reine Gedanken-Spiele, bloße Phantasmagoreme wären. Zwar in einem ideellen Reich der (platonischen) Ideen versammelt, weit jenseits von unserem eigenen Leben. Aber in unserem Alltag gänzlich zu entbehren, weil scheinbar zu nichts nutze.
Es gibt kein Wissen von jen-seits des Todes. Niemand kam zurück, um uns gesicherte Erkenntnis zu bringen. Zwar gibt es Überzeugungen als Glauben, zwar gibt es hierin Gewissheit, die trägt. Aber das Wissen des Menschen ist auf den Bezirk des Dies-seits beschränkt. Wer jedoch ideelle Werte lebt, der braucht nicht auf seinen “Lohn im Jenseits“ zu schielen. Auch braucht er seine Hoffnung nicht auf ein “Nachher“ zu verlagern. Lohn und Hoffnung erfüllen sich ihm im Hier seines Jetzt. In dieser Geste. In dieser Tat. “Wahre Menschlichkeit“ wie sie von Philosophien und Religionen beschrieben und als ein “gutes Sollen“ (Ethik) entwickelt wurde, geschieht und vollzieht sich mitten in unserem Alltag. Den tragenden Grund bilden ideelle Werte; die “Früchte“ konkretes Tun. Ideelle Werte können — müssen aber nicht — Gegenstand akademischer Diskurse sein.