Fürsorgeerziehung, 3. Teil


„um eine weitere Verwahrlosung zu verhindern“

Anordnungen zur Fürsorgeerziehung im Kreis Bergstraße in den Jahren 1934-1938

 

Teil 3

 

III

Es folgen die Berichte über einen Schüler und zwei Schülerinnen, für die infolge Misshandlungen seitens der Stiefmutter bzw. des Vaters Fürsorgeerziehung beantragt wurde; bei einer der beiden Schülerinnen wurde die Fürsorgeerziehung aufgrund ihres Alters von achtzehn Jahren und zwischenzeitlich eingetretener Mutterschaft wieder verworfen.

Der im elften Lebensjahr stehende Gustav S. aus Auerbach war der Sohn eines kriegsbeschädigten Bäckermeisters, der eine kleine Bäckerei besaß. Seine erste Frau, Gustavs Mutter, war „bereits vor Jahren verstorben“, seine zweite Frau war Anna Maria S., geb. Z. Anlässlich einer „Musterung der Kinder für die Schulspeisung“ fiel dem Kreisarzt Gustavs „körperlich völlig zurückgebliebener“, blasser und schmächtiger Zustand auf. Nach Schätzung des Kreisarztes wog er „10 bis 15 Pfund weniger, als seine Altersgenossen.“ Geistig überragte er dagegen seine Alterskameraden; die Klassenlehrerin und der Rektor waren voll des Lobes über ihn. Wörtlich heißt es im Fürsorge-Beschluss des Amtsgerichtes Bensheim: „Der Junge ist sehr begabt und wäre evtl. für den Besuch einer Adolf Hitler-Schule vorgeschlagen worden, wenn er körperlich nicht zu schwächlich wäre.“ Die Ursache dieser Schwächlichkeit bestand im Sadismus der Stiefmutter und der Insuffizienz des Vaters vor seiner Frau. Gustav musste zu Hause regelrecht hungern, wurde „häufig streng gezüchtigt und mißhandelt“ und „ununterbrochen durch Ungerechtigkeiten gequält“. Um nur ein Beispiel aus dem Schriftsatz des Amtsgerichtes zu zitieren: „Eines Tages kam die Mutter in die Schulpause und sah Gustav mit einem Brötchen in der Hand. Auf Befragen sagte er ihr, er habe es von seinen Mitschülern bekommen.“ Frau S., „die darin eine Bloßstellung sah, daß die Kinder wissen, daß Gustav nicht genug zu essen hat, drohte dem Kinde mit den Worten: ‚Komme heute nur nach Hause, da gibt es Schläge, wie du noch keine bekommen hast.’“ Im Nachmittagsunterricht dieses Tages sei „das sonst rege Kind völlig verstört und für den Unterricht unbrauchbar“ gewesen. Als sich Vorkommnisse dieser Art wiederholten, wurde Frau S. zur Bürgermeisterei geladen, ihr „die Mißhandlung des Kindes durch Schlagen und Hunger vorgehalten und […] eine Verwarnung erteilt.“ Eine Sinnesänderung bewirkte die Verwarnung nicht bei Frau S., zwar verzichtete sie aus Selbstschutz darauf, „den Knaben zu schlagen, quält ihn aber auf andere Art und Weise.“ Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie seien auskömmlich, bedingten „also die Unterernährung nicht.“ Der Vater stehe ganz unter dem Einfluß der Stiefmutter; „zwar nicht so, daß er das Kind ebenfalls mißhandelt, sondern er besitzt keine Energie[,] den Ungerechtigkeiten der Stiefmutter entgegenzutreten.“ Die am 03. Januar 1938 vom Amtsgericht Bensheim verfügte vorläufige Fürsorgeerziehung für Gustav S. wurde am 13. September desselben Jahres in endgültige Fürsorgeerziehung umgewandelt. Glücklicherweise hinderten die negativen familiären Vorkommnisse seiner Kindheit und die gewiss nicht leichte Jugendzeit im Fürsorgeheim während der Kriegsjahre Gustav S. nicht an einem geordneten bürgerlichen Lebensgang. Er wurde Vermessungstechniker und gründete eine Familie. Anfang des Jahres 2010 ist er auf seinem Alterssitz in Palamos an der Costa Brava verstorben.

Im Fall der beiden Schwestern Elisabeth St. und Katharina St. verfuhr das Amtsgericht Lampertheim unterschiedlich: Für die fünfzehnjährige Elisabeth St. wurde Fürsorgeerziehung angeordnet, für die achtzehnjährige Katharina St. dagegen abgelehnt. Die beiden Schülerinnen (Elisabeth war Berufsschülerin) lebten in einer zerrütteten Familie. Der Vater hatte „eine Zuchthausstrafe wegen Meineids verbüßt und es wurden ihm die bürgerlichen Ehrenrechte auf 5 Jahre aberkannt. Es herrscht zu Hause fast ständig Zank und Streit. St. soll oft betrunken sein und wird als grob und rabiat bezeichnet.“ Er ließ es „an den notwendigsten Unterstützungen für seine Familie fehlen“, obgleich er durch eine Kriegsbeschädigtenrente, Ersparnisse und Grundbesitz sowie gelegentliche Maurerarbeiten dazu in der Lage gewesen wäre. Stattdessen unterhielt er eine Beziehung mit einer anderen Frau. Die familiäre Situation trieb die Töchter immer wieder außer Haus. Die Ehefrau wollte schon die Scheidung einleiten, „ließ sich aber wieder auf Bitten von ihrem Manne zur Rückkehr bewegen.“ Auch die Behörden änderten zunächst nichts an der quälenden Situation und wiesen die geflohene Katharina St. durch das Vormundschaftsgericht dazu an, „in den elterlichen Haushalt zurückzukehren, da damals nicht genügend Gründe vorhanden waren, um die elterliche Gewalt des Vaters zu beschränken oder aufzuheben“. Als einzige Konzession wurde Katharina St. zugesagt, „ihren Vater auf den Umfang seiner elterlichen Gewalt hinzuweisen.“ Der Leidensdruck für die Schülerin schien jedoch schon so groß gewesen zu sein, dass sie der Anordnung des Vormundschaftsgerichtes nicht Folge leistete, sondern „auswärts verschiedene Stellungen“ annahm, „die sie aber nach kurzer Zeit wieder aufgab.“ Ihre vom Vater missbilligte Beziehung zu einem sechs Jahre älteren Mann in Pfungstadt führte zu einer Schwangerschaft. „Am 18.III.ds.Js. hat sie entbunden und wohnt wieder bei den Eltern. Eine Heirat kommt z.Zt. nicht in Frage.“ Eine kreisärztliche Untersuchung Katharina St.s habe ergeben, dass bei ihr „angeborener Schwachsinn leichten Grades“ vorliege. „Mit Rücksicht darauf, daß Katharina St. schon über 18 Jahre alt ist, schon geboren hat und Zweifel bestehen, ob eine Fürsorgeerziehung Aussicht auf Erfolg hat (§ 63 Abs. II JWG), lehnt das Gericht die Anordnung der Fürsorgeerziehung ab.“ Anders sah das Gericht die Lage bei der fünfzehnjährigen Elisabeth St. „Fürsorgeerziehung ist nicht offenbar aussichtslos.“ Sie wurde angeordnet „zur Verhütung der Verwahrlosung mit Rücksicht auf die bestehenden häuslichen Verhältnisse“ der Schülerin.

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