Fürsorgeerziehung 1934-1938


Johannes Chwalek

 

„um eine weitere Verwahrlosung zu verhindern“

Anordnungen zur Fürsorgeerziehung im Kreis Bergstraße in den Jahren 1934-1938

 

Teil 1

 

Vorbemerkung

Eine Akte des Staatsarchivs Darmstadt[1] enthält die Namen von 23 Schülerinnen und Schülern und zwei Kleinkindern, die während der NS-Zeit in den dreißiger Jahren von den Amtsgerichten Bensheim und Lampertheim mehrheitlich der Fürsorgeerziehung überwiesen wurden. Nur in Einzelfällen verzichteten die Kreisjugendämter als vorgängige Behörde auf Beantragung von Fürsorgeerziehung und beließen es bei Ermahnungen und Kontrollen des familiären Lebens. In den Schriftsätzen ist die Rede von 17 Jungen und neun Mädchen. Als Haupt-Gründe für die Fürsorgeerziehung wurden genannt: in zehn Fällen Diebstähle, in drei Fällen „Verwahrlosung“[2], in zwei Fällen sexueller Missbrauch, in zwei weiteren Fällen Sittlichkeitsvergehen, in drei Fällen Misshandlung durch Elternteile. Drei Kinder wurden vorsorglich in Fürsorgeerziehung gegeben, weil schon die älteste Schwester vom Vater missbraucht worden war. Bei zwei Schülern wurde lediglich sozial auffälliges Verhalten aktenkundig gemacht, ohne dass dies schon zu Anträgen auf Fürsorgeerziehung geführt hätte.

Die Auflistung der Haupt-Gründe der Fürsorgeerziehungs-Maßnahmen scheint zwei Gruppen zu beinhalten: Schülerinnen und Schüler als „Täter“ bei Fällen wie Diebstahl oder Sittlichkeitsvergehen, und als Opfer bei Fällen wie Misshandlung durch Elternteile oder sexuellen Missbrauchs. Natürlich waren auch die vermeintlichen „Täter“ in Wahrheit Opfer meistenteils zerrütteter Familienverhältnisse. Diese „Zerrüttungen“ changierten zwischen offensichtlichem, teilweise eklatantem elterlichen Fehlverhalten, der wie immer gearteten Unfähigkeit, das eigene Kind geordnete Wege gehen zu lassen oder schicksalhaften Notlagen. Allerdings ist die Aussagekraft der Anträge auf Fürsorgeerziehung durch die Kreisjugendämter und die Beschlüsse der Amtsgerichte, die sich auf die Anträge der Kreisjugendämter stützten, begrenzt. Genauere psychologische Hintergründe der geschilderten familiären Situationen werden nicht ersichtlich.

Reflexe der NS-Ideologie sind in den Schreiben der Kreisjugendämter und Amtsgerichte kaum vorhanden, wenn man nicht die vereinzelte Floskel, das Kind möge noch einmal zu einem nützlichen Mitglied der Volksgemeinschaft werden, die einmalige Erwähnung des Jungvolks, einer Adolf-Hitler-Schule oder Horst-Wessel-Straße dazu zählt. Aufhorchen lässt jedoch die hin und wieder erkennbare Neigung, sozial abweichendes Verhalten als „erbbedingt“ zu erklären. Insgesamt aber gilt, dass die in den Anordnungen geschilderten Zustände dem Propagandabild „deutschen Lebens“ seit dem 30. Januar 1933 deutlich widersprachen. Vielleicht war es dieser Umstand, der den Bearbeitern und Juristen das weitgehende Privileg der Sachlichkeit bot inmitten der Diktatur.

Der schlechte Ruf der Fürsorge- oder „Anstaltserziehung“ schon zu Zeiten der Weimarer Republik wurde nicht erst durch die Veröffentlichung des Romans „Schluckebier“[3] von Georg K. Glaser im Jahr 1932 unterstrichen und musste unter den Bedingungen der NS-Rassenideologie noch weiter leiden.[4] Das Thema der nachfolgenden Zeilen betrifft jedoch nur die exemplarische Ausarbeitung der eingangs erwähnten Akte und damit die Darlegung von Verhältnissen am unteren Rand der Gesellschaft im Kreis Bergstraße in den dreißiger Jahren.[5]

 

 

I

Der Beschluss des Amtsgerichts Bensheim vom 17. August 1938 zur vorläufigen Fürsorgeerziehung für den dreizehnjährigen Schüler Hans G.[6] wurde begründet mit einer Reihe von Diebstählen, die der Junge begangen hatte. Schon im Alter von „etwa 9 Jahren“ habe er „seiner Lehrerin […] einen Geldbetrag und ein Buch“ entwendet. Mit 12 Jahren, „im Herbst 1937“, drang Hans G. „durch ein offenstehendes Fenster […] in die Wohnung der Kinderschulschwester Frl. Paula“ F. „in Reichenbach“ ein. Zuvor hatte er „das Vordach eines Schuppens überklettern“ müssen. G. durchwühlte in Abwesenheit der Schwester die Wohnung „und entwendete aus einem im Kleiderschrank stehenden Kästchen einen Betrag von Mk. 15,–.“ Sofort nach der Tat fuhr G. „mit dem Postomnibus nach Bensheim, kaufte daselbst einen Fußball zu Mk. 11.50[,] den Rest des Geldes gab er für Fahrgeld und Naschereien aus.“ Kurz vor dem Beschluss des Amtsgerichtes zur Fürsorgeerziehung wurde er von seiner Mutter zu einem Landwirt nach Reichenbach geschickt, „um daselbst Eier zu holen.“ In der Zeit, in der die Landwirtin in den Hühnerstall ging und G. allein in der Küche stand, entwendete er „aus einer im Küchenschrank liegenden Geldbörse einen Zehnmarkschein.“ Den Geldschein ließ er sich sofort in einer Reichenbacher Wirtschaft „in Kleingeld umwechseln, um sich anscheinend dadurch vor der Entdeckung und Überführung des Diebstahls zu schützen.“ Allerdings hatte die bestohlene Landwirtin den Diebstahl rechtzeitig bemerkt, so dass G. das Geld sofort wieder abgenommen werden konnte. Auch bei einem weiteren Einkaufsgang nach Reichenbach hatte G. Geld gestohlen, war überführt worden und hatte den Betrag ebenfalls wieder abgenommen bekommen. In einer Wirtschaft und Gemüsehandlung sollte er „Gelbrüben“ holen. Er betrat das Wirtszimmer „gleichzeitig mit einem Reisenden […] Da nicht sofort jemand in der Wirtschaft erschien, begab sich der Reisende in die Wohnräume der Familie“ J. „Diesen Augenblick nutzte nun der allein in dem Wirtszimmer anwesende Schüler G. […] aus. Er begab sich an das Büffet, zog die nicht verschlossene Schublade des Büffets auf und entwendete daraus einen Betrag von Mk. 6.– Alsdann begab er sich zu dem Gemüsehändler D. in Reichenbach um daselbst die gewünschten Gelbrüben für seine Mutter zu holen.“ Als J. „in das Wirtszimmer kam“ und G. „nicht mehr vorfand, der sich ja nach Angaben des Reisenden in dem Wirtszimmer befinden sollte, schöpfte er sofort Verdacht, kontrollierte sofort seine Kasse und stellte den Fehlbetrag von Mk. 6.– fest.“

Im Fürsorge-Beschluss des Amtsgerichtes Bensheim für Hans G. war von einem offensichtlichen Versagen des Elternhauses nur insofern die Rede, als dass die Eltern „nicht in der Lage“ gewesen seien, „dem Treiben ihres Sohnes Einhalt zu gebieten“ und der Junge „trotz wiederholter Züchtigungen […] nicht davon abzubringen“ gewesen sei, „immer wieder Diebstähle zu begehen“. Auch beim zwei Jahre jüngeren Albert H. gehen die Ursachen fortgesetzter Diebstähle aus dem Fürsorge-Beschluss des Amtsgerichtes Bensheim nur undeutlich hervor. Albert H. sei früher bei seinem Großvater mütterlicherseits untergebracht gewesen und befinde sich „seit März ds. Jrs. im Haushalte seines Stiefvaters, des Ehemannes seiner Mutter.“ Der Amtsgerichts-Beschluss führte das Kreisjugendamt an, das glaubhaft gemacht habe, „dass der Albert H. in letzter Zeit mehrere Diebstähle begangen hat.“ So habe er „in der städt. Badeanstalt, in welcher sein Großvater als Hilfsbadewärter beschäftigt ist, mehrere Fahrraddiebstähle – bezw. Gebrauchsdiebstähle an solchen begangen. Am 24. Mai 1938 entwendete er ein Damenfahrrad und stellte dieses nach gemachtem Gebrauche in der Horst-Wesselstrasse in Bensheim ab. Ein Herrenfahrrad, das er am 30. Mai 1938 entwendete[,] will er nach gemachtem Gebrauch, ebenso wie ein am 4. Juni 1938 entwendetes Herrenfahrrad wieder in die Badeanstalt zurückgebracht haben.“ Noch von anderen Fahrraddiebstählen Albert H.s ist im Beschluss zur Fürsorgeerziehung die Rede, wobei es auffällt, dass der Schüler die Räder immer wieder zurückbrachte, einmal mit der Behauptung, er habe das Fahrrad, „das er als dasjenige des Eigentümers erkannt habe, einem anderen Jungen abgenommen. Er hat daraufhin von der Mutter des Eigentümer[!] des Fahrrades 50 Pfg. bekommen, die er auf dem Juxplatz vernaschte.“ Diebstähle zu begehen, wurde dem Schüler zu dieser Zeit fast schon zur Gewohnheit. So stieg er dreimal durch ein Fenster in die Wohnung der Familie B. in der Rodensteinstraße ein und entwendete dabei Geld und einen Fotoapparat; beim dritten Diebstahlsversuch „wurde er von der Wohnungsinhaberin bemerkt.“ Sogar seiner Mutter und seiner Tante entwendete er „verschiedene Geldbeträge“. Die Mutter und der Großvater Albert H.s erklärten sich mit der Fürsorgeerziehung einverstanden, was einem Eingeständnis ihrer Hilflosigkeit gegenüber dem Gebaren des Sohnes und Enkels gleichkam. Albert H. kam nach Mühlheim im Kreis Offenbach in ein Erziehungsheim und ist im Jahr 1999 zweiundsiebzigjährig in einem Ort an der Bergstraße verstorben.

Auch ein in Bürstadt geborenes dreizehnjähriges Mädchen ist in der Akte aufgeführt, das am 01. Oktober 1936 wegen Diebestaten vom Amtsgericht Lampertheim der Fürsorgeerziehung und „Anstaltsverwahrung“ überantwortet wurde. Anna H. sollte „schon vor Jahren eine Mitschülerin bestohlen“ haben. „Seit Sommer 1934 häuften sich die Diebstahlsfälle“; im Beschluss werden vier Gelddiebstähle genannt. „Schon öfters“ sei Anna H. „in Worms beim Betteln betroffen und festgenommen worden. Es fiel in der Schule auf, daß sie immer über Geld verfügte, über dessen Herkunft sie oft lügnerische Angaben machte und das sie fast täglich für Naschereien verausgabte.“ Die Urteile über die Schülerin fielen eindeutig aus: Sie zeige keine Reue und sei „fast vollständig hemmungslos. Die Eltern sind ihrer Tochter nicht gewachsen […] Es liegt offenbar ein Hang zum Stehlen vor.“ Anna H. sei bereits verwahrlost und es bestehe die Gefahr, „daß sie auch Mitschülerinnen ungünstig beeinflußt.“ Wie im Falle Albert H.s hätten sich die Eltern „mit Fürsorgeerziehung einverstanden erklärt.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] HStAD G15 Kreise Bensheim M 219: Anordnung der Fürsorgeerziehung für Schulkinder durch das Amtsgericht.

[2] Das Stichwort „Verwahrlosung“ betraf „Herumstreunen“ und längeres, auch nächtliches Ausbleiben von zu Hause, hätte aber für alle in der Akte genannten Kinder verwendet werden können, ob sie nun auf Grund ungünstiger häuslicher Verhältnisse Diebstähle begangen oder „nur“ unterernährt waren.

[3] Georg K. Glaser schildert in seinem autobiografischen Roman das Leben Schluckebiers von der Kindheit mit einem kriegsheimgekehrten, prügelnden Vater, der Flucht aus dem Elternhaus und dem Leben in einem Fürsorgeheim unter Hunger und Gewalt. Als es zu einer Revolte der Fürsorgezöglinge kommt, wird Schluckebier von der angerückten Polizei erschossen.

[4] Vgl. etwa http://www.heimkinder-ueberlebende.org/Fuersorgeerziehung_im_Vaterland_-_1924-1991.html mit weiterführenden Literaturhinweisen.

[5] Für hilfreiche Unterstützung danke ich dem Leiter der Geschichtswerkstatt Geschwister Scholl in Bensheim, Franz Josef Schäfer, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt.

[6] Personennamen wurden aus Datenschutzgründen anonymisiert.

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