„Vorläufig bin ich noch in Einzelhaft“ – Franziska Kessel (1906-1934)
Teil 3
Von der Verhaftung am 4.4.1933 bis zum Urteil des OLG Darmstadt über drei Jahre Zuchthausstrafe am 17.11.1933 vergingen mehr als fünf Monate, aber Franziska Kessel erhielt nur drei Monate Untersuchungshaft auf die Strafe angerechnet. „Die bürgerlichen Ehrenrechte werden der Angeklagten auf die Dauer von fünf Jahren aberkannt. Die beschlagnahmten Druckschriften werden eingezogen.“[1]
Das Urteil nach § 88 StGB lautete nicht auf „Hochverrat“, wofür nach der „Reichstagsbrand-Verordnung“ die Todesstrafe verhängt werden konnte, sondern – ebenso wie im Jahr 1930 vor dem Reichsgericht Leipzig – auf „Vorbereitung zum Hochverrat“[2]. Bei der Begründung des Urteils ging es dem Gericht zunächst darum, Franziska Kessel als Angehörige der verbotenen KPD eine konspirative Absicht beim Treffen am Ludwigsbrunnen zu beweisen. Die Einlassungen machen deutlich, dass Franziska Kessel die Verteidigungsstrategie verfolgte, nur einen harmlosen Spaziergang zum Ludwigsbrunnen unternommen zu haben. Sodann wurde gegen sie der Vorwurf erhoben, zur Gewalt gegen den Staat aufgerufen zu haben, wenn auch in umschreibender Form. Der deutsche Staat und seine verfassungsmäßige Ordnung wurden mit dem Hitler-Faschismus gleichgesetzt – was die revolutionären Absichten der Angeklagten in den Augen der NS-ergebenen Richter umso krimineller erscheinen lassen musste.
„Der Angeklagten wird zur Last gelegt, in Bad Nauheim und anderen Orten im März 1933 oder um diese Zeit ein hochverräterisches Unternehmen – die gewaltsame Änderung der Reichsverfassung – durch Herstellung illegaler Verbindungen zwischen revolutionären Kommunisten und Verteilung von Flugschriften staatsfeindlichen Inhalts vorbereitet zu haben.
Durch die Einlassung der Angeklagten und die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung“ sei „zur Überzeugung des Senats tatsächlich festgestellt“ worden, dass Franziska Kessel „nach der Wahl vom 5.3.33 […] im Auftrag der Partei als Agitatorin in dem Bezirk Oberhessen bis Marburg besonders eifrig tätig“ gewesen sei. Durch mündliche Weisungen habe sie die Funktionäre zur Herstellung und Verteilung von Flugblättern aufgefordert, in denen Hitler und Göring des Reichstagsbrandes beschuldigt worden seien und wo zum Generalstreik aufgerufen worden sei. Weiter heißt es, dass die von der „Angeklagten ausgegebenen Druckschriften“ zwar „nicht ausdrücklich und wörtlich die Aufforderung zur Gewalt“ enthielten, diese aber „umgehen und umschreiben“ würden, so dass sich doch „in aller Deutlichkeit“ zeige, „was wirklich gemeint ist.“
Der entscheidende Passus der Urteilsbegründung ist in folgenden Sätzen enthalten, die einer Selbstaufgabe der Unabhängigkeit des Gerichtes und der Preisgabe der demokratischen Weimarer Verfassung gleichkommen:
„Da der Faschismus(,) d.h. die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei schon im März 1933 als identisch mit dem verfassungsmäßigen deutschen Staat zu erachten war(,) bedeutet die Aufforderung, ‚den Faschismus vom Antlitz der Erde wegzufegen’(,) nichts mehr und nichts weniger als die gewaltsame Beseitigung der Deutschen Verfassung.“ Als „prominente Führerin der kommunistischen Bewegung, die sogar zum Reichstag delegiert war“, hätte Franziska Kessel „eher als jeder andere die wahren Ziele der Bewegung“ – nämlich den „gewaltsamen Umsturz“ – und „ihre Tätigkeit“, die „diesem Ziele diente“, erkennen müssen. Strafverschärfend wirkte sich die Vorstrafe Franziska Kessels wegen des gleichen „Vergehens“ aus. Wegen der „Geschäftsbelastung des Strafsenats“, die die Untersuchungshaft „etwas verlängert hat“, wurden drei Monate auf die Strafe angerechnet, „trotz des Leugnens der Angeklagten“. Die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte wurde mit der „Verwerflichkeit der Gesinnung“ Franziska Kessels begründet.[3]
Etwaige Einlassungen des Verteidigers Franziska Kessels fehlen in der Urteilsschrift. Das Oberlandesgericht Darmstadt hatte sich im November des Jahres 1933 als juristischer Handlanger der Diktatur erwiesen.[4]
Der Haftantritt Franziska Kessels im Landgerichtsgefängnis Mainz erfolgte am Mittwoch, den 22.11.1933.
Welche Behandlung die Gefangene während der Untersuchungshaft erfahren hatte, kann nicht bestimmt werden. Es lässt sich lediglich angeben, dass sie am Sonntag, den 26.11.1933 noch mit fester Handschrift einen Brief an ihre Familie schrieb sowie ein schriftliches Gesuch an die Gefängnisleitung richtete und um die Erlaubnis zum Englischlernen bat. Diese Schreiben verraten, dass Franziska Kessel von der zukünftigen Freiheit träumte und die Haftzeit – wie schon in Frankfurt-Preungesheim – sinnvoll nutzen wollte. Ihr Lebensmut war bis dato noch nicht gebrochen.
Der Brief vom 26. November 1933 lautete:
„Alle Lieben!
Am Mittwoch wurde ich hier eingeliefert. 1001 Nacht hat also begonnen. Märchenhaft ist es hier jedoch ganz und gar nicht, so nüchtern wie nur irgendetwas im Leben sein kann. Ich teilte euch sofort nach meiner Verurteilung mit, daß meine Haft mit dem 17. Aug. 1936 endigt. Es kann einem Gefangenen ¼ der Strafe bei entsprechender Führung erlassen werden. In einem solchen Falle wäre meine Haft im Dez. 35 zu Ende. Aber das liegt alles noch in solch weiter Ferne, daß man daran noch nicht denken sollte, aber was ich hoffe, daß mir die Zeit möglichst rasch vorüberfliegt […].“[5]
Franziska Kessel – gerade ins Gefängnis eingeliefert – denkt an den Termin ihrer Entlassung und malt sich die vorzeitige Möglichkeit dazu bei guter Führung aus. Zwar schreibt sie im Brief an ihre Familie, dass „man daran noch nicht denken sollte“, doch fügt sie sogleich nach einem Komma (und einem zweiten „aber“) hinzu, dass ihr „die Zeit möglichst rasch“ vorüberfliegen möge. Nach irgendeiner Art Trost für sich sucht sie auch im nächsten Passus des Briefes:
„Vorläufig bin ich noch in Einzelhaft. Ich hoffe jedoch, daß es nicht immer der Fall bleiben soll und ich mit anderen Gefangenen zusammen kome.“ (!)[6]
Dieser Wunsch wurde ihr offensichtlich nicht erfüllt. Wochenlanger Einzelhaft in einem Kellerverlies des Gefängnisses mit einsamen Hofgängen bei Dunkelheit folgte die perfid ausgedachte Zusammenlegung mit zwei Mörderinnen. Bei ihrem Tod saß Franziska Kessel anscheinend wieder allein in der Zelle – denn sowohl Mord als auch Selbstmord hätten sich nicht mit der Zeugenschaft eines oder mehrerer Mitgefangenen vertragen. Ein normaler Haftalltag, bei dem der Termin der Entlassung vom Häftling realistischer Weise ins Auge gefasst werden konnte, blieb Franziska Kessel versagt. Ihre sich verschlechternde psychische Verfassung rührte – im Zusammenwirken mit den fortwährenden Misshandlungen bei den Verhören – daher, dass sie die Zeichen deuten konnte und mehr und mehr die Hoffnung auf Freiheit schwinden sah.
In ihrem Brief vom 26. November 1933 sondierte die Gefangene zum Schluss noch Kontaktmöglichkeiten mit ihren Angehörigen aus:
„Wie ihr bereits auf dem bedruckten Briefbogen erseht, ist die nunmehrige Regelung des Briefverkehrs eine andere. Nur den Angehörigen darf ich schreiben. Zu diesen zählt auch der Verlobte. Ich darf also auch nur einen Brief empfangen. Ihr müßt euch also schon gegenseitig verständigen jemandem(!)(,) wer mir schreiben will. Am besten ist es wohl(,) wenn ich an Alfred schreibe. [Der Bruder, Anm. J.Ch.] Er hat ein Rad und kann euch dann immer sagen, wie es mir geht. Emmy sprach in ihrem Briefe davon, daß ihr mir ein Paket bei Gelegenheit schicken solltet. Ich darf ein solches zu Weihnachten empfangen. Wenn es euch also möglich wäre, würde ich nicht nein sagen. Aber auch nur dann, wenn ihr nicht selbst soviel dadurch entbehren müsst. Sonst lasst es nur. Ich darf also bis zum 25. Januar ein Paket und einen Brief empfangen. Dass ich nur einen Brief schreiben und empfangen darf im Zeitraum von 2 Mon., soll Alfred bei Gelegenheit auch der Lilly mitteilen, damit sie nicht vergeblich schreibt. Die Briefe bleiben liegen. Der erste Besuch darf bis Februar abgestattet werden.“
Die Ahnung, dass sie sich trügerischer Hoffnung auf einen Besuch ihrer Angehörigen hingibt, beschlich Franziska Kessel, und auch dies teilte sie wie ein Signal ihrer Verzweiflung mit:
„Ich weiß, daß ihr kein Geld habt um herzufahren und mich zu besuchen, aber ich schreibe euch dies alles, damit ihr in allem Bescheid wisst und doch so ein Fünkchen Hoffnung in mir sitzt(,) das sagt, ‚vielleicht kann doch mal jemand kommen.’ Aber hier fließen Wahrheit und Dichtung schon wieder ineinander. Ich kann mir diesen Luxus des Spinnens ja leisten, aber ihr habt alle wichtigere Dinge zu tun als […] auf meine dummen Gedanken zu achten.
Vergesst mich nicht! Grüßt meine Freunde auf das herzlichste!
Euch allen liebe Grüße!
Eure Franziska“[7]
Erste Seite des Briefes Franziska Kessels
vom 26. November 1933 an ihre Familie
Das erwähnte Gesuch Franziska Kessels an „die Verwaltung des Landger. Gef.!“ vom „26. Nov. 33“ drehte sich um ihre geplanten Englisch-Studien:
„Da ich meine englischen Studien fortsetzen möchte, ersuche ich die Gef. Verwaltung um die Erlaubnis, dieses Studium weiter betreiben zu dürfen. Da ich einen ‚Langenscheidt’ als Lehrbuch habe(,) ist die technische Möglichkeit des Studiums gegeben. Da die schriftlichen Übersetzungen mit das wesentlichste Moment zur Ausbildung ausmachen, wäre mir die Zustellung von Schreibmaterial, vielleicht 1-2 mal in der Woche, erwünscht. Außerdem könnte ich dann ein Schreibheft zum Anfertigen der Übersetzungen gebrauchen. Dieses könnte man von dem Geld, welches von mir im Besitze der Gef.Verw. ist, anschaffen.“[8]
Realistische Hinweise auf die Haftbedingungen konnten unter den Verhältnissen der Diktatur nur aus der Retrospektive gegeben werden. Maria Deeg (1907-2000) saß zur gleichen Zeit wie Franziska Kessel im Landgerichtsgefängnis Mainz ein und hat darüber anschaulich berichtet. Ihre weitergehenden Zeilen über ihren Gefangenentransport nach Aichach in Oberbayern vermitteln vollends einen Eindruck von der Behandlung, die Gefangene, auch Frauen, zu gewärtigen hatten:
„Mainz war scheußlich. Nachts fraßen einen die Schaben auf. Ein einziges Mal wurde gesprüht, da kamen sie in Scharen unter dem Sockel hervor. Dabei stellte ich fest, daß diese Viecher lebende Jungen kriegen und zwar so um die vierzig […] Ich war froh, als die Zuchthausabteilung in Mainz wegen Überfüllung aufgelöst und wir auf Transport nach Aichach/Oberb. kamen. Unterwegs machten wir in den Polizeigefängnissen Hanau und Würzburg Station. Sie strotzten vor Dreck, schmierige, blutige Bettwäsche und Handtücher, es war ekelhaft, entsprechend war auch der Fraß. Acht Frauen in einer Zelle, für die Notdurft ein Eimer, unerträglicher Gestank. Als eine Gefangene in Würzburg es wagte, um ein sauberes Handtuch zu bitten, schlug sie der Beamte zusammen.
In dem Waggon für Gefangene wurden wir in den engen, dunklen Raum – (man konnte durch die kleinen Klappen nicht nach außen schaue –,) der für 4 Personen Platz hatte, mit 9 hineingepfercht. Das hieß stundenlanges Stehen, dazu die schlechte Luft. Als eine Gefangene meinte, ‚aber hier geht doch niemand mehr rein’, packte sie der Aufseher vorne an der Brust, ohrfeigte sie links und rechts und stieß sie brutal zu uns herein.
Der Zug war kaum in Bewegung, da holte man aus einer Zelle einen Gefangenen. Der eine Aufseher hielt ihn fest, indem er ihn in den Schwitzkasten nahm, der andere Aufseher drosch mit einem Gummiknüppel auf ihn ein, bis er nicht mehr konnte. – Der Gefangene hatte geraucht. Wahrscheinlich hatte er unterwegs eine Kippe gefunden.
Eine Genossin bekam einen Schreikrampf, als sie die Prügelei vor unserer Zellentür sah, und hörte nicht mehr mit Schreien auf. Wir mußten sie hart anfassen, daß sie wieder zu sich kam. Befragt, warum sie so schreie, erzählte sie immer noch heulend, daß man sie bei der Darmstädter Gestapo bei den Vernehmungen geprügelt habe.“[9]
[1] LA Speyer, J 85, Nr. 156, Franziska Kessel (Archiv Gedenkstätte KZ Osthofen).
[2] Später reichte der Vorwurf „Vorbereitung zum Hochverrat“ für ein Todesurteil aus, wie der Spruch des Volksgerichtshofes etwa über Konrad Blenkle (1901-1943) am 25. November 1942 zeigte.
[3] LA Speyer, J 85, Nr. 156, Franziska Kessel (Archiv Gedenkstätte KZ Osthofen).
[4] Vgl. auch Martin Schumacher (Hrsg.): M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933-1945. Düsseldorf 1991, S. 14: „Mit der Legalisierung des politischen Terrors […] wurden Polizeiapparat und Justiz […] auf ein Ziel fixiert: Ausschaltung und Unterdrückung jeder Opposition.“
[5] LA Speyer J 85 Nr. 156 (Archiv Gedenkstätte KZ Osthofen).
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Maria Deeg: Signale aus der Zelle. Antifaschistischer Widerstand in Giessen 1933-1945. Giessener Antifaschistische Hefte. Dritte verbesserte und erweiterte Auflage. Fiessen 1983, S. 18f.