Fluch der Straße


Fluch der Straße

 

Auf der Straße lebe ich. Meine Hände sind dick und rot. Auch meine Beine sind aufgequollen und nur notdürftig verbunden. So lebe ich, tagsüber in den Fußgängerzonen um ein paar Euro bittend, nachts in Hauseingängen und ab und zu in einer Obdachlosenunterkunft. Hier hat man wenigstens eine warme Pritsche und kann seine Habseligkeiten unterstellen. Aber lange halte ich es nicht aus. Es treibt mich, weiterzuziehen.

Bei gutem Wetter gehört die Stadt mir. Dann sitze ich auf dem Asphalt, geschützt von einer Mauer, an die ich mich anlehnen kann, und beobachte die Menschen, die an mir vorbeieilen, weil ihnen mein Anblick peinlich ist. Doch geht es mir wirklich schlechter als diesen abgehetzten Gestalten? Sie sind in ihre Korsetts aus Pflichten eingeschnürt, tragen Verantwortung für Kinder, Haustiere, Wohnungen oder Häuser. Das muss ich nicht, denn ich bin frei.

 

Es gibt auch schwierige Zeiten, das räume ich ein. Der letzte Winter war lang und kalt. Draußen war es nicht zu ertragen. Also musste ich mich der Enge in der Unterkunft aussetzen. Morgens ein heißer Kaffee tat gut, aber wenn man dann dort sitzenbleiben musste, zog sich die Kehle zu. Es trieb mich nach draußen. Die Straßen waren leer,  es gab wenig zu sehen, doch roch alles intensiv nach Autoabgasen, denn die Autofahrer versuchten auf dem vereisten Untergrund vorwärtszukommen. Also kehrte ich zurück. Ein Sozialarbeiter versuchte mich aufzurütteln. „Können Sie sich nicht vorstellen, in einer kleinen Wohnung zu leben, Frau Hauke?“ Ich konnte es nicht. Es ist langweilig und bedrückend, in einer Wohnung zu wohnen. Besitz empfinde ich als Last.

Die Gesundheit leidet aber, denn meine Beine schmerzen an den offenen Stellen. Krankenkasse zahle ich nicht, es gibt in der Stadt einen Arzt, der Obdachlose kostenlos behandelt. Neulich hat er sich meine Beine angesehen und sie mit Jod abgetupft, dann hat er mich wieder auf die Straße geschickt,  mit mitleidigem Blick: „Sie sind doch noch so jung.“

 

Ich bin 45 und lebe seit 27 Jahren auf der Straße. Auch ich habe andere Verhältnisse gekannt. Meine Kindheit verbrachte ich in einem Reihenhaus bei Hanau, aber die Enge zwischen den Vorgärten hat mir schon in meiner Jugend zu schaffen gemacht. Die Schule verließ ich vorzeitig, ich wollte reisen, aber von meinen Eltern bekam ich kein Geld. Also trampte ich mittellos nach Frankreich und Italien und schlug mich durch. Das Leben auf der Straße begann mir zu schmecken. Ich wurde mal hier in ein Haus eingeladen, mal dort, aber immer, wenn ich es wollte, konnte ich wieder gehen. Meine Eltern waren entsetzt, konnten aber nichts tun. Schließlich erteilten sie mir Hausverbot, weil sie eine solche Tochter nicht ertrugen. Dabei wussten sie genau, dass ich mir keine Wohnung nehmen würde.

Damals war ich 18 und frisch verliebt, in einen Pflastermaler, der ebenfalls keinen festen Wohnsitz besaß. Ich war immer in seiner Nähe und beschützte seine großflächigen Gemälde, während er mit der Sammelbüchse herumging. Doch dann wurde ich ihm zu viel und in einer Nacht, in der wir Schlafsack an Schlafsack in einer Passage der Hanauer Innenstadt unter einem Geschäftstor eingeschlafen waren, schlich er sich davon und wechselte seinen Aufenthaltsort, ohne mir ein Sterbenswort zu sagen. Ich fühlte mich gottverlassen ohne ihn. Andere Jugendliche, die auf der Straße lebten, konnten mich nicht trösten. Also zog ich alleine umher, durch verschiedene Städte und Dörfer.

 

Ich trauerte zwei Jahre, dann hatte ich mich an die Einsamkeit gewöhnt. Ich kam nach Frankfurt. Auf dem Römerberg war eine große Party. Ich ließ mich von der Menge treiben und mitziehen. Aus Lautsprechern erschallte Musik. Den Anlass der Veranstaltung kannte ich nicht, aber plötzlich fiel die Trauer von mir ab und ich fühlte mich wieder lebendig. Hier würde ich bleiben, das spürte ich instinktiv.

 

Frankfurt ist eine Metropole und gebärdet sich wie ein Dorf. Die Menschen hängen an ihren Stadtteilen, sie richten sich ein und treffen sich, ihre Mundart pflegend, in den Sommermonaten zum Grillen in ihren Gärten. Ich bin nicht an einen Stadtteil gebunden, mir gehört Frankfurt ganz. Ich kann mich frei bewegen. Oftmals sitze ich auf der Zeil, das ist die große Einkaufsmeile, am Wegrand, zeige meine offenen Beine und habe eine Büchse neben mir stehen. Ich schaue den Passanten auf die Waden und warte darauf, dass jemand etwas einwirft. Es sind die Kinder, die zu mir herüberblicken und ihre Mütter an den Armen ziehen. Manchmal lassen sich die Frauen erweichen und opfern mir einen Euro oder 50 Cent. Dann kaufe ich mir ein Brötchen und eine Tasse Kaffee.

 

Das Leben auf der Straße ist furchterregend und weckt das Mitleid. Viele Menschen schauen an mir vorbei und eilen einfach weiter, ich sehe ihnen nach; mein Blick ist fester als der ihre und ich fühle mich stärker, als sie ahnen. Nur einmal wäre ich fast schwach geworden, es liegt ein paar Jahre zurück. Da wurde in der Nähe des Bahnhofs ein Frauenwohnheim eröffnet, speziell für Alleinstehende am Rande der Gesellschaft. Weil es Winter war und die Verzweiflung gegen meinen Willen in mir heraufkroch, hörte ich dem Sozialarbeiter zu, der von den Zimmern sprach und von der günstigen Miete, für die das Sozialamt aufkam. Aber als ich das Gebäude besuchte und die immer gleichen kleinen Räume erblickte, schnürte sich mir trotz der eisigen Kälte der Hals zu, ich wollte nicht Wand an Wand mit anderen Frauen leben, denen es ähnlich ging wie mir. Also sagte ich ab, der Sozialarbeiter schüttelte mitleidig den Kopf und fragte: „Wo wollen Sie denn hin in der Kälte?“ und ich winkte ab und sagte: „Ein Unterschlupf zur Nacht ist mir genug.“

 

Den meisten Menschen graut es beim Gedanken an die Straße. Sie kennen nicht das Gefühl von Freiheit, das sich mit ihr verbindet. Die Freiheit, auf Pflichten und Bindungen zu verzichten, die Loslösung von dem Zwang, ständig an denselben Ort zurückkehren zu müssen. Die Chance, den Tag auf sich zukommen zu lassen, sich zu bewegen, wie man will. Die Menschen hängen an ihren Wohnungen und Arbeitsplätzen, sie haben Angst, etwas davon zu verlieren. Wer beides nicht hat, kann sich nur auf sich selbst verlassen. Er kann sich auf den Weg machen und das Lied der Straße erklingen lassen:

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