Feldpostbriefe, Fortsetzung


Feldpostbriefe

Erzählung, zehnter Teil

 

Der Andrang der Schüler auf dem Sportplatz ist groß. Alle wollen Speere werfen, Kugeln stoßen und mit den neuen Bällen spielen. Ich muss mir Ruhe verschaffen, um die Sicherheitsbestimmungen bezüglich der Speere und Wurfkugeln zu erläutern. Die beiden Obertertianer, die im Sportgeschäft meinen „Hustenanfall“provozierten, erklären sich sofort bereit, die Wurftechniken mit Speer und Kugeln, wie es ihnen der Verkäufer zeigte, zu demonstrieren – und dann geht es los.

Eine Amsel sitzt auf einem Baum und singt ihr Abendlied. Ein tröstendes Bild.

Um 19.45 Uhr ertönt die Außenklingel und ruft alle Schüler ins Haus. Vorher sammeln sie rasch die Bälle, Speere und Kugeln ein. Dr. Freitag und ich kontrollieren, dass nichts fehlt, lassen die Jungen die Geräte in den Schuppen tragen und geben ihnen dann ein Zeichen, dass sie ins Haus gehen und sich für das Abendgebet in der Kapelle fertig machen sollen. Den Schuppen schließe ich mit Dr. Freitag gemeinsam ab. Er enthielt früher eine Kegelbahn, die vor drei Jahren, als Dr. Freitag und ich an der Westfront unsre Haut zu Markte trugen, eines Nachts abbrannte. Die Ursache für den Brand sei nie ermittelt worden, erzählte mir der Rektor, der seinerzeit auch noch nicht in B. Dienst tat, sondern Gemeindepfarrer in I. war. Er bot mir an, die Unterlagen und Protokolle einzusehen, vielleicht könnte ich etwas herausfinden, was damals übersehen worden sei. Es wäre eine Detektiv-Arbeit, denke ich, verbunden mit Zeugenbefragungen. Ob ich mich auf einen solchen vergleichsweise aktuellen Fall einlassen kann, weiß ich noch nicht. Bisher habe ich mich bei meinen Artikeln in der angenehmen Sphäre des „Vorbei“aufgehalten.

„Darf ich fragen, Herr Präfekt, ob Sie schon die Feldpostbriefe gelesen haben?“

„Ja, ich habe sie gelesen.“

„Den ganzen Packen?“

„Ja, alle.“

Dr. Freitag sieht mich erstaunt an.

„Sie sind verwundert“, sage ich, „weil ich anfangs zögerlich war.“

„Ja, richtig!“

„Ich habe mich dann doch dazu entschlossen, einen Blick hineinzuwerfen und schnell gemerkt, dass dieser Werner L. ganz anders gedacht hat als ich damals und heute. Deswegen konnte ich weiterlesen.“

Dr. Freitag nickt nur mit dem Kopf. Vielleicht versteht er es nicht ganz, aber natürlich ist es ihm recht.

„Welchen Eindruck haben Sie gewonnen?“

„Werner L. hat sich freiwillig zum Militär gemeldet, weil er den ganzen patriotischen Schwindel geglaubt hat – was bei den Gebildeten ja nicht so selten war.“

„Er hat es teuer bezahlen müssen.“

„Nicht allein durch seinen Tod, sondern schon vorher durch eine notorische Schönfärberei der Rekrutenausbildung und des Fronteinsatzes.“

„Wie meinen Sie das?“

„Das würde ich Ihnen gerne anhand von Beispielen darlegen. – Vielleicht morgen?“

„Sehr gerne! – Darf ich Sie noch etwas fragen … sollte ich nicht der Frau … der Witwe Bescheid geben?“

„Worüber?“

„Dass Sie die Briefe gelesen und sich bereits einen Eindruck verschafft haben.“

„Dazu würde ich nicht raten.“

„Warum nicht?“

„Meine Schlussfolgerungen fallen anders aus, als es die Frau vielleicht erwartet. Vor allem sind es auch nur ein paar Zeilen; ganz vorläufig; unzusammenhängende Notizen. – Aber sagen Sie: Kennen Sie die Adresse der Frau?“

„Ich könne ihr postlagernd schreiben, wenn ich ihr etwas mitteilen wolle, hat sie gesagt. Vorerst sei sie aber auf einer Reise.“

„Ah, auf einer Reise!“

Buchstäblich jetzt erst fällt mir ein:

„Hat die Frau blonde Haare?“

„Ja, blonde Haare.“

„Trug sie das Haar offen oder geflochten?“

(Was tut das zur Sache?)

„Geflochten. – Warum fragen Sie?“

„Ich habe heute in H. eine auffallend schöne blondhaarige Frau gesehen …“

„Ach, ja?! Was tat sie? Wohin ging sie?“

„Sie wartete in der Nähe der Haltestelle am Marktplatz und traf dort einen Mann, mit dem sie davonging.“

Dr. Freitags Gesicht fällt in sich zusammen. Meine Äußerung, dass es sich bei der Frau an der Haltestelle nicht zwingend um die Witwe des Werner L. handeln müsse, weil die beiden Merkmale blonde Haare und auffallende Schönheit dafür nicht ausreichten, bewirkt nichts. Er ist überzeugt davon: „Sie“war es!

Um ihn abzulenken, sage ich:

„Für morgen mache ich Ihnen einen Vorschlag.“

„Welchen?“, fragt Dr. Freitag mit matter Stimme.

„Wir trainieren zusammen Speerwurf und Kugelstoßen.“

„Ich mit meinem ‚einen’ Arm?“

„Ja, mit diesem ‚einen’ gesunden Arm, den Sie haben.“

„Ich wäre Ihnen hoffnungslos unterlegen!“

„Wir treten nicht in Konkurrenz zueinander, sondern trainieren gemeinsam, um unsere persönlichen Bestmarken zu steigern. Meinen Sie nicht, das könnte uns Spaß machen?“

Ein schwaches Lächeln überfliegt Dr. Freitags Gesicht.

„Wir probieren es“, sage ich, „einverstanden?“

Dr. Freitag nickt zustimmend. Dann fragt er:

„Hat die Frau Sie nicht beeindruckt?“

„Oh doch, ich dachte, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich gewiss wundert, sooft sie ihr ins Gesicht scheint.“

Dr. Freitag sieht mich halb belustigt, halb missbilligend an. Nichts nähme ich ernst und woher ich nur immer die schönen Worte hätte!

„Das ‚dachten’Sie“, sagt er schließlich mit Strenge, „und was denken Sie jetzt über die Frau?“

Verliebtheit ist eine Art Krankheit, die alten Griechen hatten recht, eine Verrücktheit des normalen inneren Sinns, geht es mir durch den Kopf. Dr. Freitag antworte ich:

„Die außergewöhnliche Schönheit dieser Frau ist wie eine treffsichere Waffe. Ich entziehe mich ihr.“

„Der Waffe oder der Frau?“

Ich sehe Dr. Freitag an und lache. Er kann es auch – Heureka! Dann wird er plötzlich wieder ernst und sagt noch:

„Ich bin hier eingebunden in tausend Kleinigkeiten, die alle zu beachten sind, dabei warte ich eigentlich auf Antwort …“

„Auf Antwort wegen des Kriegs … Ihres Arms?“

„Natürlich!“

„Wir warten alle auf Antwort, die wir dem Krieg ins Gesicht sehen mussten. Niemand kann sich dieses Gesicht vorstellen, der nicht dabei gewesen ist, so wie wir es uns nicht vorstellen konnten, bevor wir zur Front kamen.“

„Sie sind heil davongekommen.“

„Äußerlich, ja! Aber wie es innerlich aussieht, kann ich nur gut verbergen.“

Schon wieder schneide ich auf, denke ich in Erinnerung an meinen „Hustenanfall“heute im Sportgeschäft.

Dr. Freitag schaut mich fragend an. Ich will es dabei belassen und sage deshalb nur:

„Die meisten von uns verstummen. Sie führen äußerlich wieder ein normales Leben. Wenn sie auf den Krieg angesprochen werden, bleiben sie im Allgemeinen. Vielleicht dass sie nachts heimgesucht werden von Albträumen … oder auch tagsüber, plötzlich … ganz unvermutet.“

Wieder denke ich an den „Hustenanfall“.

„Und die Antwort?“, fragt Dr. Freitag.

„Erwarten Sie keine Antwort vom Staat, von der Kirche, von der ‚Geschichte’! Das Kaiserreich hat uns zu den Waffen gerufen und die Kirche hat die Waffen gesegnet. Die katholische Kirche hat auf ihren eigenen Papst nicht mehr gehört. Der wollte den Krieg nicht – von Anfang an nicht! – und hat versucht, ihn zu beenden – erfolglos! Jetzt müssen Sie aber zur Kapelle gehen und dann zur Abendaufsicht!“, dränge ich.

Dr. Freitag sieht mich an.

„Ich weiß, Sie hatten heute Morgen die Frühaufsicht, aber wäre es Ihnen möglich … ich würde selbstverständlich morgen die Abendaufsicht übernehmen. Nur jetzt wäre es mir sehr lieb, ich könnte für mich sein.“

Ich habe auch die Mittagsfreizeit geopfert, um die Sportgeräte zu kaufen, aber Dr. Freitag äußert seine Bitte in einem Tonfall, der mich das Opfer bringen lässt. Die schöne Frau befindet sich jetzt vielleicht mit ihrem Verlobten in einem Nachtzug nach Italien und hat nicht die geringste Ahnung, dass ihre Ausstrahlung im Schülerheim in B. gerade den Dienstplan durcheinanderbringt.

„Gehen Sie aber ins Haus … wenn Mergler zurückkommt …“

„Selbstverständlich! Ich bin Ihnen sehr verbunden, Herr Präfekt!“

(wird fortgesetzt)