Feldpostbriefe
Erzählung, achter Teil
Die Aufsicht über die Schüler beim nachmittäglichen „Studium“ gehört zu meinen bevorzugten Dienstpflichten. Ich sitze vor den Pultreihen mit 63 Unter- und Mittelstuflern (Sexta bis Obertertia), die in aller Regel diszipliniert ihren Haus- und Übungsaufgaben nachkommen; nur wenige Male muss ich während der gesamten Zeit des „Studiums“ von 15.15 Uhr bis 18.25 Uhr meinen Blick erheben, um ein Flüstern mit dem Nachbarn oder sonst ein unpassendes Geräusch zu unterbinden und die Atmosphäre aus Lernen und Federkratzen wieder herzustellen. Natürlich haben die Schüler manchmal Fragen zu ihren Aufgaben, die sie im sogenannten Zweiten Studium (nach einer halbstündigen Kaffeepause) von 16.45 Uhr bis 17.30 Uhr an mich richten. Soweit es um sprachliche, gesellschaftswissenschaftliche oder religiöse Fragen geht, versuche ich zu helfen; für Fragen aus der Mathematik und den Naturwissenschaften ist Dr. Freitag zuständig, in dessen Studiersaal mit den Sekundanern ich meine Unter- und Mittelstufler schicke. Ebenso treten die Unter- und Obersekundaner aus der Gruppe Dr. Freitags an mich heran, wenn sie mit ihren Aufgaben zu Schillers „Wallenstein“ oder der Heeresreform unter Wilhelm I. Stockungen erleben. Eine regelrechte kleine Völkerwanderung zwischen den beiden Studiersälen darf man sich während des Zweiten Studiums allerdings nicht vorstellen. Es handelt sich für gewöhnlich nur um wenige Schüler, die zu meinem Kollegen und mir mit ihren Büchern und Heften kommen. Immer wieder geschieht es auch, dass es im Zweiten Studium ruhig bleibt und ich kein Stuhlrücken eines oder mehrerer meiner Schüler höre und auch die Tür des Studiersaals nicht geöffnet wird von der Hand eines Sekundaners.
Während des Dritten Studiums von 17.35 Uhr bis 18.25 Uhr dürfen die Schüler selbstgewählten stillen Beschäftigungen nachgehen, sofern sie alle Schularbeiten erledigt haben. Ich sitze für gewöhnlich lesend oder schreibend an meinem Pult und schaue nur hin und wieder in die Runde. Plötzlich halte ich inne und schreibe in Majuskeln:
KEINE ENTSCHÄDIGUNG FÜR UNGLÜCK! DAS UNGLÜCK HAT SICH SELBST IM GEFOLGE. SOLL ICH ES AUS DER HAND WERFEN WIE EIN GLÜHENDES EISEN? ABER ICH HABE ES ERLEBT! WAS MUSS ICH TUN? WAS HILFT MIR MEINE KLEINE EINSICHT?
Tobias Schramm tunkt seine Schreibfeder wieder eifrig ins Tintenglas auf seinem Pult. Er schreibt Geschichten über Jungen seines Alters, „die in ganz anderen Verhältnissen leben“ als er selbst, wie er mir vor ein paar Tagen erzählt hat. Ich habe ihn gelobt und nicht weiter nachgefragt. Vorerst will ich ihn nur meine Sympathie spüren lassen für seine Schreibbemühungen. Vielleicht ergibt sich demnächst ein Gespräch mit ihm über die Hintergründe. Ich vermute, dass er sich eine Gegenwelt schreibt (er-schreibt) zu seinen häuslichen Verhältnissen. Wenn es so wäre, wäre es eine außerordentliche Reaktion für einen Sextaner.
Die Geschichte des französischen Soldaten Lucien Bersot wird Ihnen unbekannt sein. Ich habe sie vor Kurzem erzählt bekommen, sie klingt für „zivile Ohren“ unglaublich, aber sie ist verbürgt. Was Lucien Bersot passierte, passierte in abgewandelter Form Soldaten aller Armeen des Weltkrieges, denn nur mit brutalem Zwang und immer wieder geübter sadistischer Willkür war das gegenseitige Massenmorden aufrechtzuerhalten. Lucien Bersot war ein Dorfschmied in der Nähe von Besançon. Er wurde gemustert und erhielt bei der Einkleidung eine beige Hose aus Stoff, statt einer roten Hose, wie sie in der französischen Armee üblich, aber momentan nicht mehr vorhanden war. Mit einem Infanterieregiment kam er an die Front und sollte durch Angriffe die Deutschen von der Stadt Soissons in den Ardennen ablenken (richtig, vor Soissons ist Ihr Mann gefallen!). Wegen der Kälte verlangte er eine andere Hose, der Fourier wollte ihm die verschmutzte, beschädigte und blutige Hose eines Gefallenen geben, was Lucien Bersot ablehnte. Der diensthabende Offizier bemerkte die Auseinandersetzung, mischte sich ein und befahl Lucien Bersot, die Hose zu nehmen und anzuziehen. Wiederholte Befehle und Drohungen richteten nichts aus. Zur Strafe brummte der Offizier Lucien Bersot acht Arresttage auf und meldete den Vorfall seinem Vorgesetzten Colonel François Maurice Auroux. Dieser sah die Gelegenheit gekommen, „ein Exempel zu statuieren“, um der Truppe Disziplin aufzuzwingen. Er beraumte eine Gerichtsverhandlung an, wo er selbst den Vorsitz führte (was er aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht gedurft hätte) und verurteilte Lucien Bersot wegen Befehlsverweigerung im Angesicht des Feindes zum Tod durch Erschießen. Am 13. Februar 1915 wurde Lucien Bersot tatsächlich erschossen – wegen einer Hose! Er hinterließ eine Frau und eine kleine Tochter.
Ihr gefallener Mann erzählt eine Geschichte, die das Menschliche und Unmenschliche ebenfalls ausdrückt, am 13. November 1914, als er an der Front war:
„Ein Vorfall vom Tage vorher ging mir viel durch den Sinn. Reservist Lehmann war am Tage mit einem Gefreiten auf Patrouille, wurde entdeckt. Der Gefreite wirft sich nieder und kriecht. Mein Lehmann ist so erstaunt, dass er beschossen wird, dass er ruhig weiterläuft, ja sich sogar entrüstet umdreht und drohend sein Gewehr schwingt. Lungenschuss – tot.“
Wir machten uns Illusionen, um Sinn zu finden im Un- und Widersinn. Deutschland, Deutschland, über alles! „Pass auf, immer vorsichtig sein, melde dich nie zu irgendetwas freiwillig!“, sagten die Verwandten. Was sollten sie sagen? 120 scharfe Patronen, das Seitengewehr geschliffen in der Waffenmeisterei. Das Pfeifen der Kugeln. „Fertigmachen! Antreten!“ Lanzenstich, blutende Brust, verglaste Augen, offener Mund, verkrallte Hände – und die Fliegen! Überall Fliegen! „Zweite Linie, Sprung auf! Marschmarsch! In die erste Linie einschwärmen!“ 30 Zentimeter weiter nach links und aus wär’s mit mir gewesen. Die Kugeln fliegen, aber du siehst niemand. Der Feind ist unsichtbar geworden. Jetzt aber doch nicht: ein Franzose mit Oberschenkelschuss. „Totschlagen?“ „Lass ihn! Lass ihn liegen! Weiter!“ Ein 19-jähriger Gymnasiast, Freiwilliger natürlich, Brustschuss, tot. Überall Gefallene. Schokolade, Zigaretten, Zigarren und Obst! „Weitermarschieren!“ Kein Mensch wusste, wohin. Schützengraben ausheben mit kleinen Spaten, der harte Boden, das Wurzelwerk. Gewitter, Regen, pitschnass und kalt, in den Stiefeln Wasser – warum? Wofür? Infanterie, Kavallerie, Artillerie, vor, zurück, keiner wusste, woran er war. Pferd mit hängendem Kopf, toter Reiter, selbst schwer verletzt am Bauch und am hinteren Bein. Aus Mitleid schoss ich ihm eine Kugel in den Kopf.