Feldpostbriefe, Fortsetzung


Feldpostbriefe

Erzählung, siebter Teil

 

Im Bus bilden die vier Jungs, die mir als Träger zugeordnet sind, zwei aus der Obertertia, zwei aus der Untersekunda, sogleich eine Gruppe, sitzen beieinander, tauschen sich aus und lachen viel. Ich gehöre nicht dazu, aber sie akzeptieren mich als denjenigen, der die Fahr- und Gehstrecke zum Sportgeschäft kennt, und natürlich als denjenigen, der die Fahrkarten gelöst und bezahlt hat. Ich gehöre nicht dazu, weil ich einer anderen Generation entstamme und mich nicht dauernd wie sie über alle möglichen Dinge erheitern kann.

 

Sixtus steht vor mir auf. Wir liegen bei Saarburg in Lothringen und sind unter Beschuss. Eingraben heißt der Befehl und die Devise für jeden von uns, denn es geht – mal wieder! – ums Leben. „Halte dich tiefer, Sixtus!“, haben wir ihm oft gesagt, „du hältst deinen Buckel hoch wie eine Katze.“ Das hat er immer befolgt und immer Glück gehabt, dass es ihn nicht vorher erwischt hat. Diesmal vor Saarburg ist der Beschuss so stark – es kracht, knattert und zischt um uns herum –, dass jeder sich selbst der Nächste ist und dass niemand Augen hat für einen Kameraden. Ein Aufschrei! Diese Aufschreie der Getroffenen! Aber auch jetzt bleibt keine Zeit, sich um den Kameraden zu kümmern, er stöhnt und jammert auch nicht, wie wir es oft erleben müssen; wir graben uns ein; das Krachen, Knattern und Zischen der Geschosse geht weiter; vielleicht zwanzig Meter von mir platzt ein Schrapnell und erwischt mehrere Kameraden. Am nächsten Morgen finden wir auch Sixtus, den Katholiken, Papst-Verehrer und Adelsfreund; den immer ein wenig exaltierten, schauspielerisch begabten Sixtus mit einem Schuss in den Rücken tot im Graben. Jakob steht vor mir auf, mein Kamerad Jakob. Die Franzosen vor uns halten ihre Gewehrkolben in die Höhe zum Zeichen, dass sie sich ergeben wollen. Wir hören auf zu schießen. Einige Franzosen springen aus dem Graben und wollen fliehen. Leutnant Rabe befiehlt zu schießen. Alle fliehenden Franzosen fallen. Ich schieße daneben, das merkt niemand, Hauptsache mein Gewehr kracht. „Und jetzt den Rest der Bande gefangen nehmen!“, ruft der Leutnant, „vorwärts! Marschmarsch!“ Wir rücken vor, kriegen plötzlich von hinten Feuer, von unsren eignen Leuten, die nicht wissen, dass wir es sind, drei unsrer Männer fallen. Wir wollen zurück in die Deckung, aber der Leutnant schreit uns an: „Vorwärts! Marschmarsch!“ Jakob und Hubert G., Vater zweier Kinder, zögern. Der Leutnant zögert nicht, er schießt auf Jakob und Hubert G. Voller Entsetzen schau ich auf Jakob. Er erwidert meinen Blick noch – für den letzten, unbeschreiblichen Moment seines Lebens; Jakob, der Sportler und Musiker, Saxophon- und Klavierspieler; wie bewundere ich dich, Jakob, der ich mich auf Notenblättern dauernd verirre. Auch Hubert G. ist tot, Vater zweier Kinder. Der gefangene Franzose steht vor mir auf. Wir haben die Stellung der Franzosen gestürmt. Was fliehen konnte, ist geflohen oder wurde erschossen, jetzt liegen nur noch verwundete französische Soldaten im Graben, sie starren uns an mit angstvollen Augen, manche heben die Arme (wenn sie es noch können) zum Zeichen der Aufgabe. Unser Kompaniechef lacht und schießt einem Franzosen in die Brust. Nicht nur die verwundeten Franzosen sind entsetzt, auch wir deutschen Soldaten. Der Kompaniechef hat sein sadistisches Gelüste noch nicht gestillt. Er schnappt sich einen jungen Kerl mit Oberschenkelverwundung und schießt ihm zum Spaß eine Kugel in den Hintern. Dann hält er ihm die Pistole an die Schläfe und drückt ab. Alles geht schnell, aber langsam genug, dass ich das Gesicht des in Todesangst erstarrten jungen Burschen sehe.

 

Die Fahrt mit dem Autobus führt uns in die Nachbarstadt H. Als wir am Marktplatz aussteigen, will ich sehen, ob die Jungs ein berühmtes Fachwerkrathaus betrachten; ob die Architektur des auffälligen alten Patrizier-Gebäudes ihre Blicke bannt. Stattdessen schauen sie woanders hin, mit einem Ausdruck im Gesicht, der verrät, dass es sich wohl – ja, um eine Frau handelt; eine schöne Frau; eine sehr schöne Frau! Nicht nur meine Schüler, sondern auch die Männer an der Haltestelle schauen die Frau mehr oder weniger offen an. Männer, die mit ihren Frauen da sind, wagen nur verstohlene Blicke. Natürlich macht das lange, volle, blonde Haar, das die Frau offen trägt, viel aus. Dann ihre Figur, ihr Gang, ihre selbstbewussten Schritte – und alles zusammen gekrönt vom Zauber ihres Gesichts! Offensichtlich wartet sie auf jemand, denn sie schaut sich öfter um, dabei die Blicke, die sie treffen, gleichgültig ignorierend. Tatsächlich! Da wird sie abgeholt von einem Mann, mit dem sie sich umarmt und davongeht. So kurz war das Vergnügen – der Bann – sie anzuschauen!

„So, Jungs, können wir jetzt ins Sportgeschäft gehen?“

Die Schüler lächeln ein wenig verlegen, es ist, als ob sie sich schütteln müssten, bevor sie ihre Geistesgegenwart wiederfinden, mir mit nüchternen Schritten zu folgen.

Im Sportgeschäft lächelt der Verkäufer erfreut, als er von der Summe hört, die ich auszugeben bereit bin. Sein Habitus verändert sich schlagartig in das freundlichste Entgegenkommen. Er legt uns Wurfspeere und Wurfkugeln verschiedener Längen und Gewichte vor, fragt nach dem Alter der Jungs, für welche die Geräte bestimmt seien, gibt Empfehlungen ab, zeigt uns Wurftechniken, lässt die Jungs im Ansatz probieren, korrigiert bescheiden und führt uns zu den Bällen, wovon sein Haus „die reichhaltigste Auswahl präsentieren“ könne. Nur die Hochsprungständer seien gegenwärtig leider nicht vorrätig, würden jedoch „auf dem schnellsten Wege bestellt und dem Schülerheim geliefert“, sodass ich mich mit den Jungs nicht noch einmal ins Sportgeschäft bemühen müsse.

Die beiden Obertertianer albern mit den Speeren herum, während ich meine Aufmerksamkeit dem geschwätzigen Verkäufer widme und zwischendurch auf die Jungs achte, dass sie keinen Unfug veranstalten. Gerade als ich die Tertianer ermahnen will, vorsichtig mit den Speeren zu sein, markieren sie ein gegenseitiges Erstechen in den Bauch und lachen dazu. Ein Schwindel ergreift mich, ich möchte schreien, aber ich huste zur Tarnung, als ob ich mich verschluckt hätte (woran?). Besorgt greift mir der Verkäufer an den Arm. Die Jungs schauen erschreckt. Nach der Schlacht bei Saarburg 1914. Ein deutscher und ein französischer Soldat. Zur gleichen Zeit haben sie sich das Bajonett in den Leib gerammt, sind im Sterben gegeneinander gesunken und halb kniend aufrecht geblieben im Tod wie ein Mahnmal gegen den Krieg.

„Geht es wieder?“, fragt der Verkäufer. „Vielleicht ein Schluck Wasser?“

Ich nicke mit dem Kopf.

Der Verkäufer eilt davon. Seine Aufdringlichkeit ist mir nun recht, sie überspielt meinen Einbruch.

Der Verkäufer ist schon wieder da, streckt mir das Glas mit Wasser entgegen, das mich tatsächlich ein wenig erfrischt.

„Geht schon … geht schon wieder!“, sage ich und mime Erstaunen über mich selbst. „So etwas!“

Die Jungs albern schon wieder, aber glücklicherweise nicht mehr mit den Speeren.

Nun heißt es bezahlen. Der Verkäufer hat nach einigen zögernden Blicken auf mich wieder ganz seine alte Servilität angenommen. Nur zwei Kugeln und zwei Speere nehmen wir mit, außerdem noch einen Fußball, den Rest der Ware bringt uns der Kurierdienst des Sportgeschäftes am späten Nachmittag vorbei.

Wenn wir es am Anfang übertreiben würden mit den Kugeln und Speeren, würden uns dies unsere schmerzenden Gelenke spätestens am folgenden Tag unfehlbar anzeigen, meint der Verkäufer lächelnd zum Abschied – in einem Sprachduktus, den ich ihm nicht zugetraut hätte.

An der Bushaltestelle schauen sich die Jungs suchend um, wie ich sofort merke. Aber die schöne Frau ist schon lange weg, abgeholt von ihrem Bekannten oder Verlobten oder wer immer der Mann gewesen ist.

(wird fortgesetzt)