Feldpostbriefe, Fortsetzung


Feldpostbriefe

Erzählung, fünfter Teil

 

Um 13.15 Uhr ertönt das erste elektrische Klingeln des Tages und mahnt die Schüler zur „Vorbereitung zum Mittagessen“, wie es in der Tagesordnung heißt (auf dieses elektrische Signal, das bei der Elektrifizierung des Heimgebäudes mit montiert wurde, ist der Rektor stolz. Ich dagegen hege auch Zweifel: Wohin führt diese Entwicklung? Werden wir allmählich zu Marionetten von außermenschlichen Impulsen? Was verlieren wir durch den „Fortschritt“?). Die Schüler sind gehalten, sich die Hände zu waschen und die Haare zu kämmen. Auf ein weiteres Klingeln um 13.25 Uhr betreten sie zusammen mit den Erziehern den großen Speisesaal. Er ist hell erleuchtet vom Tageslicht, das durch zwei große Fensterfronten in den rechteckigen Raum flutet. Zwölf runde beige Tische sind gedeckt für jeweils neun oder zehn Schüler, der „Herrentisch“, an der Mitte der fensterlosen Längswand stehend, zählt nur drei Gedecke. Am Platz des Rektors, der mit dem Rücken zur Längswand sitzt und von dort aus den gesamten Speisesaal in den Blick nehmen kann, befindet sich beim Gedeck eine Handglocke. Die nötige Ruhe erwirkt sich der Rektor zu Beginn des Mittagessens jedoch nur durch einen prüfenden Blick in die Runde; daraufhin tritt sofort Stille ein. Nach einem kurzen Tischgebet wünscht der Rektor „Guten Appetit!“, alle setzen sich, das Mittagessen beginnt. Es besteht in der Regel aus drei Gängen: Suppe, Hauptmahlzeit und Nachtisch. Die Menüfolge wiederholt sich ungefähr im Drei-Wochen-Rhythmus.

„Haben Sie Bernhard F. schon Bescheid geben können auf seine Anfrage wegen der Dosenwurst?“, fragt mich der Rektor.

„Nein, ich habe ihn noch nicht gesprochen. Nach dem Mittagessen spreche ich ihn gleich an.“

„Gut. Ich habe an der Schreibmaschine gesessen und die Wörter Pensionserhöhung und Wäschesack eingetippt …“

„Mit der Schülernummer!“, wirft Dr. Freitag ein.

„Schon notiert, aber danke für die Erinnerung! Da ist mir der Gedanke gekommen, ob wir nicht einmal einen Elterntag abhalten wollen.“

„Analog zum Elternsprechtag an der Schule“, entgegne ich.

„Ganz recht. Es sind doch einige Punkte zusammengekommen, die der Klärung bedürfen. Wir setzen uns an einem Sonntagmittag zusammen, am besten in der Aula, und sprechen über unsere gemeinsamen Sorgen und Wünsche. Vielleicht staunen wir, wie viel Verständnis die Eltern unseren Bitten und Anregungen entgegenbringen.“

Der Mann lebt ganz für das Heim, geht es mir durch den Kopf, er vergisst nichts und brütet dauernd neue Ideen aus. Wenn er nach etwas fragt, was ihm angeblich entfallen ist, wie am Vormittag die Hochsprungständer, will er vielleicht nur wissen, ob man selbst noch daran denkt.

„Ein Thema könnte die Begrenzung des Taschengeldes sein“, melde ich mich zu Wort, „ich selbst bin von Eltern darauf angesprochen worden.“

„Ja, sehr gut!“, antwortet der Rektor, „das unterstütze ich. Haben die Eltern noch etwas dazu gesagt?“

„Das Geld werde nur unnütz vertan und reize die Jungen, mit immer größeren Forderungen an sie, die Eltern, heranzutreten.“

„Wenn eine Begrenzung des Taschengelds im Interesse der Eltern ist, haben wir in dieser Angelegenheit leichtes Spiel.“

„Was schwebt Ihnen noch vor, mit den Eltern zu besprechen?“, frage ich.

„Eine ärgerliche Sache“, eröffnet der Rektor und weckt dadurch Dr. Freitags und meine gespannte Aufmerksamkeit. „Im letzten Elternbrief vom Oktober habe ich grundlegende Fragen der Internatserziehung dargelegt mit der Bitte um Stellungnahme und um ein schriftliches Einverständnis. Alle Eltern haben sich mit unseren Grundsätzen einverstanden erklärt. Aber nun erfahre ich, dass die beiden Schüler, die wir vor den Weihnachtsferien relegieren mussten, ein Stadtquartier bezogen haben.“

„Ach!“ Ich reagiere mit der gebotenen erschrockenen Miene und füge hinzu: „Die Rücknahme in die Familie war unumgänglich.“

„Selbstverständlich!“, entgegnet der Rektor, „aber stattdessen haben die Eltern dem Drängen ihrer halbwüchsigen Söhne nachgegeben und in eine Unterbringung in einem Stadtquartier eingewilligt.“

„In welcher Stufe befinden sich die relegierten Schüler?“, fragt Dr. Freitag.

„Unter- und Obertertia“, antwortet der Rektor.

Dr. Freitag nickt zur Antwort nur mit dem Kopf. Seinem Gesichtsausdruck merke ich an, dass er die Brisanz der Angelegenheit nicht erkennt und komme ihm im Duktus des Rektors zu Hilfe:

„Die Eltern werden mit uns die Sorge teilen, die sich aus dieser Situation ergibt, nämlich dass nunmehr für Zusammenkünfte zwischen den entlassenen Schülern und unseren Jungen deren Stadtquartiere die geeignetste Möglichkeit bieten.“

„Das ist es!“, sagt der Rektor. „Wenn verantwortungslose Eltern ihre unreifen Jungen frei in der Welt herumlaufen lassen, müssen wir als einzig brauchbares Gegenmittel unsere Jungen vor dem Verkehr mit jenen schützen. Wir müssen von den Eltern erwarten, dass sie mit uns am gleichen Strang ziehen und ihren Söhnen den Umgang mit den von uns entlassenen Schülern schlechthin verbieten.“

„Was schwebt Ihnen als Strafe bei Verstößen gegen das Verbot vor?“, frage ich. Aber ich kann es mir denken: Ausschluss aus dem Heim.

„Verstöße gegen dieses Verbot, das ich heute verkünde, werden mit aller Schärfe geahndet“, antwortet der Rektor. „Bei Besuchen von Stadtquartieren relegierter Schüler müssen die Betreffenden unser Haus verlassen.“

Eine Lachsalve vom Tisch der Oberprimaner erhebt sich, sodass der gesamte Speisesaal die Köpfe in ihre Richtung dreht. Auch der Rektor schaut grimmig zum Nachbartisch hinüber, aber die Oberprimaner lassen sich davon im Gegensatz zu allen anderen Schülern des Hauses nur noch zeitverzögert beeindrucken. Die verzögerte Bereitschaft zum Gehorsam wird ihnen zugestanden, befinden sie sich doch kurz vor den Abiturarbeiten und bei fünfen der zwölf Kandidaten gibt es die berechtigte Hoffnung, dass sie sich nach dem Zeugnis der Reife in einem Priesterseminar anmelden. Der Rektor wird diese Zahl vorab wie eine Siegesmeldung ans Bischöfliche Ordinariat M. melden.

Eine Redepause entsteht am „Herrentisch“ – von ernster Stimmung geprägt. Der Rektor, Dr. Freitag und ich sind nach der Gemüsebrühe bei der Hauptmahlzeit angekommen: Krautwickel, gefüllt mit Hackfleisch, dazu Reis und Soße.

„Noch einen Punkt habe ich, der mich wurmt und den ich mit Ihnen und den Eltern besprechen will“, sagt der Rektor und nimmt eine Gabel mit Reis in den Mund. „Mich wurmt, dass schon …“

An dieser Stelle passiert ein kleines Malheur: Mit der Energie des Frikativs im Adverb „schon“ machen sich einige Reiskörner auf die Reise aus dem Mund des Rektors, in den sie gerade mittels der Gabel befördert worden sind, auf den Tisch, wo sie in einem Bogen landen. Rasch nimmt der Rektor mit der Serviette Reinigungen an sich selbst und am Tisch vor. Ich werfe einen Blick zum vor uns in der mittleren Reihe stehenden Sextaner-Tisch, an dem der Vorfall bemerkt worden ist. Ein Schüler, Tobias Schramm, verzieht ungeniert das Gesicht vor Ekel. Seine Mitschüler sind zurückhaltender. Ob der Rektor die Szene mitbekommen hat, weiß ich nicht; hoffentlich nicht! Ich halte diesen Sextaner für einen begabten, aber innerlich unsicheren Jungen. Wahrscheinlich hat er zu Hause keine günstigen Verhältnisse. Die negative Meinung des Rektors über diesen Jungen, der schon öfter wegen Verletzung des Silentiums zum Strafdienst antreten musste, teile ich nicht.

„So, noch einmal!“, meint der Rektor, um seine Rede zu Ende zu bringen: „Es wurmt mich, dass schon die jungen Jahrgänge in der Freizeit nicht betreut werden wollen, obwohl sie nicht in der Lage sind, die Freizeit sinnvoll zu gestalten.“

Betreuung in der Freizeit heißt Mehrarbeit, denke ich. Oder will er dafür eine extra Kraft einstellen? Derzeit probe ich mit einer Theatergruppe im Heim ein Stück über den heiligen Alexius, das kostet mich schon viel freie Zeit.Noch mehr davon will ich nicht opfern.

„Wir wissen doch“, fährt der Rektor fort, „dass es nur ganz wenige Dinge sind, die sie ansprechen: Fußball, Kartenspielen, an Ausgehtagen das Herumstehen vor Schaufenstern, wobei es bei den Älteren oft nicht dabei bleibt, sondern der Weg in Eisdielen und Cafés führt, zu schräger Musik, Alkohol und Zigaretten. Im Sommer kommt dann noch der stundenlange Aufenthalt am See dazu, was mit echtem Wassersport nichts mehr zu tun hat. Wir sollten darauf bedacht sein, dass diese Art Freizeitgestaltung nicht oder nicht allzu sehr von unseren Jungen gehandhabt wird.“

(wird fortgesetzt)