Feldpostbriefe, Fortsetzung


Feldpostbriefe

Erzählung, dritter Teil

 

Ich rede Sie in diesem Text an, obwohl ich Sie nicht kenne. Mein Kollege Dr. Freitag kam gestern Abend zu mir und brachte eine Mappe mit Feldpostbriefen Ihres „gefallenen“, bei einem Sturmangriff vor Soissons getöteten Mannes. Er sagte, Sie hätten es eilig gehabt. Vielleicht wollen Sie die Briefe loswerden, vielleicht wollen Sie abschließen mit diesem Kapitel Ihres Lebens und noch etwas zum Andenken Ihres Mannes in die Wege leiten (gibt man sonst derartige persönliche Schreiben aus der Hand?). Möglicherweise täusche ich mich. In jedem Falle wünsche ich Ihnen Glück.

Ihrem von Dr. Freitag übermittelten Wunsch bezüglich der Feldpostbriefe kann ich kaum entsprechen, zumindest jetzt noch nicht. Als Dr. Freitag gegangen war und die Mappe in meiner Wohnung lag, fand ich erst wieder Ruhe, als ich sie weggelegt hatte in die untere Schublade meines Schreibtisches. Ich zündete die Kerze wieder an, die ich ausgeblasen hatte, und spielte die Schallplatte wieder ab mit Schuberts letzter, grandioser Klaviersonate von 1828.

 

Dreimal in der Woche, montags, mittwochs und donnerstags, gehören die Stunden nach dem Arbeitsfrühstück bis zum gemeinsamen Mittagessen im Speisesaal mir. Ich verbringe sie in der Regel auf zweierlei Weise: Entweder im Sessel sitzend in meiner Wohnung, Musik hörend auf dem Grammophon (und dabei nach kurzer Zeit immer mehr erstarrend) oder in konzentrierter Recherche- und Schreibarbeit am Schreibtisch sitzend. Seitdem ich aus dem Krieg zurückgekehrt bin, weiß ich, wie wertvoll die Konzentrationsfähigkeit ist. Sie ist eine seltenere Besucherin, als ich es mir wünsche. Ich mache ihr täglich den Hof, aber ihre Gunstbezeugungen mir gegenüber halten sich in engen Grenzen.

Dienstags laufe ich zur Aufbauschule, die in der Nähe des Schülerheims zu finden ist, um vier Stunden Religionsunterricht in zwei Klassen zu geben; freitags radle ich für ebenfalls vier Stunden Religionsunterricht in zwei Klassen zur etwas weiter entfernten Berufsschule. Eine Vollzeitkraft in den beiden Kollegien bin ich natürlich nicht. Der Abstand, der sich daraus ergibt im Hinblick auf gegenseitige Vertrautheit und gemeinsame Unternehmungen, ist mir recht. Freundliche Unverbindlichkeit, grüßen und sich die Tür aufhalten, ein schönes Wochenende, schöne Ferien, frohe Weihnachten und Ostern wünschen – das genügt. Das finanzielle Zubrot ist mir willkommen. Auch Dr. Freitag hat mich gefragt, ob er an „meinen Schulen“ Mathematik und Physik unterrichten könne, ich habe nachgeforscht, bis jetzt aber nur unverbindliche Antworten erhalten.

Ein Lehrer im eigentlichen Sinn – erfüllt von pädagogischem Eros – bin ich nicht. Vielleicht gibt es sogar allen Grund, mich einen Anti-Lehrer zu nennen, weil es mir in erster Linie darum geht, mich selbst weiterzubringen, selbst etwas zu lernen, anstatt andere etwas zu lehren. Der Gedanke, eine Vollzeitstelle als Lehrer versehen zu müssen, erfüllt mich mit Schrecken: Ich wäre genötigt, Jahr um Jahr immer neuen Schülern das Indemnitätsgesetz zu erklären oder mit ihnen die Geheimnisse des Pfingstfestes zu besprechen. Was hätte ich selbst davon außer dem monatlichen Geld auf der Bank? Nein, acht Unterrichtsstunden in der Woche an den beiden Schulen genügen mir völlig. Übrigens sind die Schülerinnen und Schüler, wenn mich nicht alles täuscht, mit meinen Lektionen zufrieden und fühlen sich nicht oder nur selten gelangweilt. Ich erkläre es mir damit, dass ich nur das unterrichte, was mich selbst interessiert. Auf die eine oder andere Weise springt der Funken dann fast immer über.

Die Jungen im Heim schätzen mich als ihren „Prä“ (von meiner offiziellen Bezeichnung als „Präfekt“, das heißt Haupterzieher nach dem Rektor), der sie ernst nimmt, gleich welchen Alters sie sind, ihnen Vertrauen entgegenbringt und auch einmal ein Auge zudrückt, wo Dr. Freitag oder der Rektor sie zum Strafdienst verdonnern. Vielleicht spüren die Jungen, dass ich in ihnen den Traum meiner eigenen Kindheit und frühen Jugend wiedererkenne, als ich vom Krieg noch nichts wusste.

 

Ihr gefallener Mann (der Ausdruck „gefallen“ sagt Ihnen vielleicht mehr zu als „getötet“), hat den Krieg nicht lange mitgemacht. Vom 25. Oktober 1914 bis zum 8. oder 9. Januar 1915, das ist kurz im Vergleich zu denjenigen, die wie ich vier Jahre lang dabei sein mussten, plus die Monate von einschließlich Anfang August 1918, als die vier Jahre erreicht waren, bis zum 11. November 1918, als das Massenmorden endlich beendet war. Nicht jeder Tag war ein Gefechtstag mit Verfolgungskämpfen, Durchbruchsschlachten, der Schlacht bei Verdun, die ich mitgemacht habe vom ersten Tag, dem 21.2.1916 bis zum 16.5.1916; der Schlacht an der Somme, die ich mitgemacht habe vom 3.7.1916 bis zum 26.11.1916; anschließend vom 27.11.1916 bis zum 15.3.1917 Stellungskämpfe an der Somme und so weiter – ich will Ihnen die Eintragungen meines Militärpasses nicht alle aufzählen, aber so ging es fort bis zum Ende des Krieges. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, getroffen zu werden, in einer Prozentzahl ausgedrückt, weiß ich nicht, wahrscheinlich ist das von Mathematikern schon ermittelt worden (Dr. Freitag will ich danach lieber nicht fragen), aber die Angst, zu dieser Zahl gerückt zu werden, ihre Stichhaltigkeit mit meinem „Tod fürs Vaterland“ zu belegen, war immer da. Die Angst vor schwerer, entstellender Verletzung ebenso, vielleicht sogar stärker.