Feldpostbriefe
Erzählung, erster Teil
Rücksichtsloses Klopfen an meiner Tür! Wie ist das möglich? Ich habe erst übermorgen die Abendaufsicht oder sollte ich mich vertan haben? Ist etwas passiert, das die Störung meiner freien Zeit rechtfertigt? Besorgt und verdrossen zugleich springe ich vom Sessel auf und öffne, nicht ohne vorher noch die Kerze auszublasen und das Grammophon leise zu stellen – da steht Dr. Freitag vor mir mit großen Augen und einer Mappe in der Hand. Bevor er etwas sagt, hält er sie hoch, sodass ich darauf blicken kann.
„Eine Frau war da, ich meine, bei mir … Das hier hat sie gebracht.“
Er hält die Mappe noch einmal hoch und schaut mich an.
„Kommen Sie herein! Setzen Sie sich! Einen Tee?“
„Nein, nein!“
„Was ist das für eine Mappe? Und wer war die Frau?“
„Eine schöne Frau! Eine sehr schöne Frau!“
Er nickt ein paar Mal zur Bekräftigung, dass ich denke:
Donnerwetter!
„Was ist in der Mappe?“
Der Gesichtsausdruck Dr. Freitags verändert sich ins Ernste, beinahe Ängstliche, bevor er ein einziges Wort hervorstößt:
„Feldpostbriefe!“
Der Krieg!, denke ich.
„Von wem? Wer hat sie geschrieben?“
„Werner L.“
„Und wer ist – Werner L.?“
Dr. Freitag sammelt sich:
„War!Er ist in der Nacht vom 8. zum 9. Januar 1915 gefallen; Sturmangriff vor Soissons.“
„Sturmangriff“– das Wort weckt meine wüstesten Erinnerungen. Ich versuche mich aber zusammenzunehmen und frage weiter:
„Was will die Frau von Ihnen … mit den Feldpostbriefen?“
Eine leichte Röte überfliegt Dr. Freitags Gesicht.
„Von mir will sie nur Vermittlerdienste. Sie hat anscheinend Artikel von Ihnen gelesen oder davon gehört, jetzt denkt sie, Sie könnten etwas mit den Feldpostbriefen anfangen … ihrem gefallenen Mann ebenfalls einen Artikel widmen.“
„Ach, es handelt sich um die Witwe des Werner L.!“
„Ja.“
„Gefallen Anfang 1915, sagen Sie. Trägt die Frau noch Schwarz?“
„Nein.“
„Wenn sie wusste, dass ich hier im Haus bin, warum kam sie nicht direkt zu mir oder hat sich mir vorstellen lassen?“
„Das habe ich ihr auch empfohlen … sich Ihnen vorzustellen, aber sie hatte es wohl sehr eilig.“
„Aha! Und die Feldpostbriefe sind Originale, keine Abschriften?“
Dr. Freitag legt sich die Mappe auf die Knie und holt das Konvolut Feldpostbriefe heraus. Es geht ein bisschen umständlich vonstatten. Nur sein rechter Arm und die rechte Hand sind gesund. Der linke Arm hängt ihm wie ein Schlauch von der Schulter herab, seitdem ihm im Lazarett das Ellbogengelenk entfernt werden musste.
Ich sehe sofort, dass es sich um Originale handelt.
„Die Briefe will sie sicherlich wieder zurückhaben?“
„Auch das habe ich sie gefragt.“
„Und?“
„Sie hat genickt.“
„Genickt? Nur genickt?“
„Ja. Finden Sie das merkwürdig?“
„Hm, ich weiß nicht.“
Dr. Freitag sieht mich an – irritiert?
Ich hebe die Schultern.
„Also, wenn ich in Stimmung bin, schaue ich die Feldpostbriefe an. Ob daraus ein Artikel entsteht, wie die Frau es offensichtlich wünscht, weiß ich nicht. Hat sie gesagt, wann sie wiederkommt?“
„Nicht so richtig.“
„Wie?“
Dr. Freitag versucht sich an den Wortlaut der Frau zu erinnern und zitiert:
„’Ich komm dann … vielleicht … bald.’ – Das war es, was sie gesagt hat.“
„Tja … vielen Dank erst mal! Wollen Sie wirklich nichts trinken?“
„Nein, ich geh auch schon wieder. Ich habe Sie gestört. Entschuldigen Sie bitte! Und vielen Dank, dass Sie hineinsehen wollen bei Gelegenheit … in die Feldpostbriefe!“
Dr. Freitag verabschiedet sich. Ich stehe da und beschließe, zunächst nicht an die Mappe mit den Feldpostbriefen zu denken. Ich lege sie in die untere Schublade meines Schreibtisches. So! Und jetzt wieder die Kerze anzünden und die Schallplatte noch einmal von vorne spielen: Schuberts letzte Klaviersonate B-Dur von 1828, vollendet nicht einmal zwei Monate vor Schuberts Tod. Diese Musik kennt den jubelnden oder reinen und frohgemuten Anfang und dann den Einbruch, den unbegreiflichen, quergewandten, und dann den Versuch, wieder anzuknüpfen an den Jubel und Frohmut des Anfangs, der nie mehr ganz gelingen will. Anders muss es weitergehen, aber wohin führt dieser Weg? Lohnt es sich überhaupt, ihn zu gehen? Hat Schubert eine Antwort? Kennt er die Kraft, die es braucht für einen wie mich?
Ich setze mich in einen der Sessel an meinem runden Tischchen und weiß, dass ich bald einnicke; dass ich mit schlechtem Gewissen wegen der Kerze wieder aufwache, auch weil der Sessel zu unbequem zum Schlafen ist, die Kerze ausblase, das elektrische Licht lösche (das in den Osterferien im ganzen Haus verlegt worden ist) und nach nebenan in meine „Schlafhöhle“ torkele. „Schlafe, was willst du mehr?“
(Fortsetzung folgt)