Exilerfahrungen


Exilerfahrungen

Rezension zu: Andreas Heusler, Andrea Sinn (Hrsg.): Die Erfahrung des Exils. Vertreibung, Emigration und Neuanfang. Ein Münchner Lesebuch. Berlin / Boston 2015 (De Gruyter Oldenbourg), 345 S., zahlr. Abbildungen.

 

Aus seiner angestammten Heimat vertrieben zu werden, gezwungen zu sein, irgendwo neu anzufangen und sich die lebensnotwendigsten Dinge wie Obdach und Verdienstmöglichkeit unter oftmals erschwerten Bedingungen erkämpfen zu müssen, sind Erfahrungen, die Menschen jüdischen Glaubens im nationalsozialistischen Deutschland der dreißiger Jahre zuhauf erdulden mussten. Dabei sind diese Schicksale noch als Glück im Unglück zu bezeichnen, weil Familienangehörige, die kein Visum erhalten hatten und nicht mit ihren Verwandten ausreisen durften, in der Regel der Verschleppung in ein Konzentrationslager und der Ermordung anheimfielen. Andreas Heusler und Andrea Sinn haben sich als Herausgeber des Buches „Die Erfahrung des Exils“ auf Erinnerungen ehemaliger Münchnerinnen und Münchner konzentriert. Die abgedruckten 25 autobiografischen Berichte können keine „breite Repräsentativität“ (S. 20) beanspruchen, geben jedoch wichtige Fingerzeige, um Fährnisse und Empfindungen nachzuvollziehen, die sich unter den damaligen Bedingungen ereignet haben. „Die Erfahrung des Exils“ wird dabei unter drei Teile mit jeweils acht Berichten gefasst: Vertreibung: Verlust der Heimat; Emigration: Rettung in der Fremde sowie Neuanfang: Erfahrungen des Exils. „Statt eines Nachworts“ steht ein Bericht von Hans Lamm (1913-1985) mit dem Titel „Juden – 30 Jahre danach“. Der sorgfältig erarbeitete Anhang umfasst neben der Danksagung, einem Abkürzungs-, Personen- und Ortsverzeichnis auch einen Glossar sowie einen Quellenkommentar und eine Auswahlbibliographie.

Im Vorwort geben die beiden Herausgeber eine wissenschaftliche Einschätzung zu den drei Exil-Stationen ihres Buches ab. Sie belegen die NS-Ausgrenzungspolitik gegen Deutsche jüdischen Glaubens und die Folgen davon in Sachen Emigration mit Erläuterungen und Statistiken. Auf diese Weise erfährt der Leser Rahmenbedingungen der Exil-Stationen wie Einreisebestimmungen und Aufnahmequoten bestimmter Zielländer, Arbeitsmöglichkeiten oder Kennzeichen jüdischer Remigration (auch nur „Rückkehr auf Zeit“) in die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Ein editorischer Hinweis legt dar, dass die nachfolgenden Berichte einer Anfang der 1990er Jahre am Stadtarchiv München begonnen „Judaica“-Sammlung entstammen und zählt verschiedene Anlässe der Entstehung und der Wege dar, wie die Berichte zum Stadtarchiv gelangten. Insgesamt 55 autobiographische Zeugnisse werden verwahrt – „in Anbetracht der aus der bayerischen Hauptstadt emigrierten 8.000 jüdischen Bürgerinnen und Bürger nimmt sich die Zahl der im Stadtarchiv München überlieferten Memoiren […] gering aus“ (S. 20).

Die Vertreibung jüdischer Bürgerinnen und Bürger begann mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und die Entscheidung für das Exil zog sich bei den meisten jahrelang hin, bis der Leidensdruck so groß wurde, dass sich die Einsicht Bahn brach, ins Exil gehen zu müssen.

Der Autor, Mathematiklehrer und Lehrer für jüdische Religion in München und Umgebung, Dr. Hermann Löb Klugmann (1885-1974), berichtet von der nicht seltenen Identifikation jüdisch-gläubiger Menschen mit dem deutschen Staat (bis hin zum Nationalkonservatismus) in den zwanziger Jahren; vom häufig guten Auskommen zwischen Menschen jüdischen und christlichen Glaubens (bis hin zur Beteiligung jüdischer Schülerinnen und Schüler am Weihnachtsfest ihrer Schule); aber auch von immer wieder auftretenden Antisemiten und Hetzern. Der Direktor seiner Schule versuchte ihn über judenfeindliche NS-Aktionen mit dem Hinweis zu beruhigen, dass die alteingesessenen und „bodenständigen“ jüdischen Deutschen nichts zu befürchten hätten, die Aktionen gälten nur dem „landfremden Judentum“…

Ruth Meros (Jg. 1922) hätten diese Worte als Schülerin des Küspert-Lyzeums in der Bürkleinstraße, wo sie von antisemitischen Lehrerinnen und Schülerinnen schikaniert wurde, nicht trösten können. Bis sie im Jahr 1939 über die Schweiz nach Palästina gelangte, musste sie eine Kette von Demütigungen ertragen. „So vieles, was für die anderen selbstverständlich war, kam für mich nicht in Frage: der Schachunterricht, Schulausflüge beispielsweise oder auf der Abschlußfeier nach dem Einjährigen-Examen mit einem Lehrer zu tanzen, das wäre ja ‚Rassenschande’ gewesen!“ Für kurze Zeit arbeitete sie als Praktikantin in einem jüdischen Kindergarten, dann wurde er zusammen mit der Synagoge in der Reichspogromnacht 1938 „angezündet und zerstört“ (S. 65). Einmal stand sie am Prinzregentenplatz, wo Hitler in ein Auto stieg. Da habe es sie „durchzuckt: ‚Was wäre, wenn du den jetzt ermorden, erschießen würdest?’“ Wie sie alles überstanden habe, wisse sie nicht, schreibt sie. „Ich habe verdrängt, so gut es ging. Erst später, in Palästina, ist dann alles rausgekommen. Jetzt habe ich mich aufgelehnt, in meinen Träumen habe ich protestiert. Diese Alpträume waren fürchterlich“ (S. 65).

Der Raub am Eigentum der zur Ausreise gezwungenen Menschen jüdischen Glaubens durch den NS-Staat; unerwartete Schwierigkeiten noch in letzten Momenten bis zum Grenzübertritt; naive Vorstellungen über Verdienstmöglichkeiten in der Fremde, die zur neuen Heimat werden sollte; oder das Erstaunen darüber, wie stark sich alles im Nachkriegsdeutschland verändert hatte, auch wenn teilweise sogar die Innenausstattung der Räume früherer Bekannter noch genau die gleiche war wie vor der Emigration – das Buch „Die Erfahrung des Exils“ gibt ergreifende Einblicke in horrende Belastungen, denen die Berichterstatter ausgesetzt waren und erzählt auch davon, wie diese Belastungen die betroffenen Menschen verändert haben.

(Erstveröffentlichung in: informationen. Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933-1945, Nr. 84, November 2016, 41. Jg., S. 44.)

 

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