ETHIK AUF SCHWANKENDEM GRUND


Thomas Berger

ETHIK AUF SCHWANKENDEM GRUND
Erwägungen im Spannungsfeld zwischen Sittlichkeit und Freiheit

̶   AUSZUG  ̶

Eine Ethik, die nicht geneigt ist, von einer abstrakten Wesensbestimmung des Menschen und einem metaphysischen Ordnungsdenken auszugehen, wird sich an das Kantische Bild vom „krummen Holze“ und an die Aussage von Aristoteles erinnern, dass es nicht leicht sei, ein guter Mensch zu sein. Sie wird skeptisch sein und sich der Erfahrung verpflichtet fühlen. Deswegen wird sie Freiheit radikaler denken, als dies in den beschriebenen Ethiken idealistischer Welterklärung und auch bei Schopenhauer der Fall ist: dass sie nämlich nicht nur die mögliche Entscheidung für das Gute im Sinne des Menschenfreundlichen einschließt, sondern auch das Böse als Menschenfeindliches. Erst auf diesem Fundament gewinnt eine sittliche Tat ihren moralischen Wert. Denn das Handeln, welches dadurch bestimmt ist, dass, wie Kant forderte, „alle Neigungen verstummen“ und die „Selbstliebe“ schweigt, weckt den Verdacht der Selbstdressur. Moralität und Immoralität lassen sich nicht auf zwei unterschiedliche Menschen verteilen, sondern liegen in ein und demselben Menschen als Potential so nahe beieinander, dass eine Entscheidung für das Gute in einem bestimmten Moment erst dadurch ihre ethische Qualität erhält, dass sie ohne Weiteres auch ganz anders hätte ausfallen können – und zwar ohne dass im Fall des unmoralisch Handelnden dieser sein wahres Menschsein eingebüßt hätte, das laut Kant gerade nicht im „Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln“ besteht, sondern allein „in der Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft“. „Ein Hund“, ist bei dem österreichisch-britischen Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951) zu lesen, „kann nicht heucheln, aber er kann auch nicht aufrichtig sein.“ Das unterscheidet den einzelnen Menschen vom Tier: Er vermag beides – zu heucheln und aufrichtig zu sein. Wie er sich jeweils verhält, ist nur sehr begrenzt vorhersehbar. Es muss also berücksichtigt werden, „daß ein Mensch“, wie Wittgenstein zutreffend bemerkt, „für einen andern ein völliges Rätsel sein kann.“

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