Eine Abtrünnige im Kloster


Eine Abtrünnige im Kloster

 

Adeline lag neben ihrem Mann und hörte sein Schnarchen. Die Besucherritze, die ihre Matratzen trennte, war mit einem Schaumgummipolster ausgestopft. Adeline spürte die Lücke dennoch, deutlicher als in früheren Jahren. Burkhard verströmte einen Geruch, den Adeline als schweißig empfand. Hatte sie das sonst nicht so wahrgenommen? Oder hatten sich seine Ausdünstungen so zum Nachteil verändert, seit er die fünfzig überschritten hatte?

Burkhard atmete hörbar und drehte sich behäbig um, sodass auch ihre Matratze nachgab. Er wandte Adeline jetzt seinen Rücken zu. Früher hätte sie in einem solchen Augenblick nach seinen Schultern getastet, hätte versucht, ihren Mann zu sich herumzudrehen, aber jetzt empfand sie eine seltsame Teilnahmslosigkeit. Achtzehn Jahre sind wir jetzt verheiratet, dachte sie, und es hat sich etwas zwischen uns geschlichen, das ist nicht nur eine Füllung aus Schaumgummi, die sich zu einem Wall auswachsen könnte. Ich habe ihn geliebt, dachte sie weiter. Wann habe ich aufgehört, ihn zu lieben?

Adeline kehrte ihrem Mann jetzt ebenfalls den Rücken zu. Tobias – sie dachte an ihren Sohn –  haben wir erfolgreich großgezogen. Hat uns die Mühe um den Jungen voneinander entfremdet?

Ihr war jetzt, als röche das ganze Zimmer nach Burkhards Schweiß. Wie ich ihn früher anfasste, dachte sie. Wie ich seine Hitze zwischen meinen Schenkeln genoss! Sie presste die Beine zusammen. Ihr kamen keine Tränen, sie biss die Zähne aufeinander. Langsam wurde es im Zimmer heller. Sehr frühe Sonnenstrahlen blinzelten durch die Ritzen des Rollladens.

Adeline stieg aus dem Bett. Aufs Duschen verzichtete sie. Gern hätte sie jetzt ihren Körper, der trotz ihrer 48 Jahre schlank und ansehnlich war, gepflegt, doch musste sie jedes Geräusch vermeiden. Adeline schlüpfte in ihre Jeans und die weiße Bluse, die sie bereits am Vortag getragen hatte. Dann schlich sie auf Zehensitzen in den Flur des schmalen Reihenhauses, griff nach ihrer Handtasche und dem leichten Blazer. Die Haustüre schloss sie kaum hörbar hinter sich.

 

Adeline erinnerte sich an ein Kloster, das sie vor vielen Jahren mit einer Reisegruppe besucht hatte. In dem Kloster gab es neben der großen Kirche eine Kapelle. Jetzt dachte Adeline an diese Kapelle und an den großen Klostergarten mit dem Springbrunnen in der Mitte. Dort wollte sie hin, wollte zur Besinnung kommen, wollte darüber nachdenken, wie es weitergehen könnte mit ihr und mit ihrem Mann und mit ihrem Sohn.

Für die Autofahrt brauchte Adeline eineinhalb Stunden. Den Namen des Klosters hatte sie in ihr Navigationsgerät eingegeben. Dieses Kloster, dachte sie, wird schon noch da sein, auch nach so langer Zeit. Auf dem Klostergelände angekommen, empfing sie der majestätische Anblick der Kirche und der an sie anschließenden Gebäude. Adeline fühlte sich, als sie dem Auto entstiegen war, allein, ja orientierungslos. Eine Wandersfrau, eine Pilgerin war sie nicht, das wurde ihr schlagartig klar. Eigentlich glaubte sie gar nicht mehr an Gott. Durfte sie dann hier Hilfe suchen?

Der Vorplatz der Kirche lag in hellem Morgensonnenschein. Der Kies am Boden glitzerte beinahe. Verunsichert trat Adeline auf die Seitenkapelle zu. War es angemessen, diese zu betreten? Seit Tobias‘ Firmung war Adeline in keiner Kirche mehr, und die Religion fehlte weder ihr noch Burkhard.

Als sie die schwere Tür geöffnet hatte, empfingen sie Kühle und ein Dämmerlicht, das sich ihr schwer auf die Augenlider legte. Die feuchte Luft roch nach Weihrauch und seltenen Kräutern. Adeline erkannte den Altar mit dem großen Kruzifix .Der Gekreuzigte hielt den Kopf gesenkt, als schaue er Adeline an. Was will er mir sagen?, dachte sie fröstelnd. Wer ist dieser Jesus, dass er mir etwas sagen will? Ein großer Redner seiner Zeit war er und ein Krankenheiler! Wer will er noch gewesen sein?

Adeline dachte an ihre Erstkommunion, wie engelgleich sie in dem weißen Kleid mit den vielen Spitzen ausgesehen hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie das Vaterunser lernte und wie sie vor der Mutter Gottes auf dem Fußbänkchen hinkniete. Sie dachte aber auch daran, dass Burkhard diese Glaubensdinge als „Mumpitz“ verworfen hatte. Als sie aus der Kirche ausgetreten war, empfand sie Erleichterung.

Adeline ging vorsichtig am Altar vorbei. Links davon war eine Madonnenskulptur in den Stein eingelassen. Darunter waren mit Jahreszahlen versehene Tafeln angeschlagen, auf denen stand „Maria hat geholfen“ oder „Der Gottesmutter sei Dank“. Adeline versuchte sich zu erinnern, wann sie selbst das letzte Mal Grund zu einer solchen Dankbarkeit hatte. Vor sieben Jahren, fiel es ihr ein. Als Tobias  die Masern hatte und in einer Nacht sein Fieber so hoch war, dass sie den Notarzt riefen…

Fortsetzung