Ein Zauber leiht mir Schwingen, letzter Teil


Ein Zauber leiht mir Schwingen

Anmerkungen zu Petrarca, letzter Teil

 

Der Himmel ist nicht zu sehen, sagte ich zu Juana, aber Petrarca versucht sich einzu­fühlen ins >ganz Andere<. Er spricht die tote Laura an: Zum Aufbruch warst du allzu schnell bereit; klagt den Tod an: Die Liebe hast du mir entrissen! und macht auch die Erde zum Ansprechpartner: Du, Erde, hütest der Geliebten Bild. (Poi che la vista angelica serena) Dass die Liebe zu Laura seine >Erlebnisweise< über die gesamte Natur – mit­samt der Zeit! – verstreute, hat sich nach ihrem Tod nicht geändert; nur der Grund für Petrarcas Tränen ist ein anderer geworden. Ein Gegenmittel besteht im anderen Gesicht des Todes: dem der Erlösung und des Friedens. „Du weinst um mich?“, denkt er sich Lauras Worte an ihn aus, „– Mein Freund, o weine nicht! / Ich starb der Welt, doch meine Tage währen / Nun ewig. Denn – das sterbend ich geschlossen – / Mein Auge öffnet´ ich im ewigen Licht!“ (Se lamentar augelli, o verdi fronde) Die Grenze menschlicher Vorstel­lungskraft ist damit erreicht, weshalb über Jahrhunderte entsprechende Verse sich äh­neln.[1] In Schweigen gehüllt bleibt das, was >im ewigen Licht< sich abspielt. Kann sich die Intuition noch einen Schritt (oder ein Schrittchen) weiter vortasten? Kann der Traum bezeugen, was am Tag im Zweifel lag? Das Bewusstsein muss resignieren, wenn Laura >nicht mehr da ist<; es hat keine Erklärung, erst recht keinen Trost zu bieten. Denn was ist damit gesagt, dass sie an der Pest starb? Dass ihr Auge brach und kein Glanz mehr darin zu finden ist? Dass ihre Schönheit für die Gegenwart und alle Zukunft verloren ist? Das zu sagen, sich immer wieder zu sagen, führt in die Verzweiflung. Die Liebe bedeu­tete für Petrarca, wie für jeden anderen Menschen, eine >Entgrenzung<. Aber der Tod stellt auch eine >Entgrenzung< dar, weil er weis machen will, dass alles bedeutungslos geworden sei, was man mit einem Menschen erlebt hat. Erinnerung – ja! Aber muss sie nicht >hinübergetragen< werden ins Jetzt? Das war es doch, was Petrarca so begeisterte an Laura: Dass sein Atem befreit schien von jeder kleinlichen Bedrückung und in Dialog trat mit der Welt! Und nun, da Laura tot ist? Ist die >kleinliche Bedrückung< ins Riesen­hafte gewachsen, nur noch dazu da, Petrarca zu erschlagen? Wenn das nicht geschehen soll (nahe daran ist er gewesen mit seinen Selbstmord-Gedanken!), muss sich nichts andres wieder einstellen, als die frühere Begeisterung, nun jedoch >geläutert< und transformiert. Der lineare Zeitlauf, den Petrarca in der Liebe nicht mehr wahrgenommen hat und der sich mit Lauras Tod als so ungeheuer mächtig erwiesen hat, muss noch ein­mal – und diesmal bewusster als beim ersten Mal! – überwunden werden. Das ist kein einmaliger Sieg, der anhält in Glorie bis zum Ende von Petrarcas eigener Lebenszeit, sondern – das Ergebnis von Erschöpfung und Loslassen im Schlaf. Petrarca war einmal beglückt durch Laura, ohne dass er mehr dazu tat, als zu sehen, zu hören, zu fühlen, mit einem Wort: er selbst zu sein. Nun, da er gedanklich die Tatsache ihres Todes hin und her gewälzt hat bis zum Ekel, wird im Traum sein Dunkel (der Bankrott seiner intellektu­ellen Bewältigungsversuche) erhellt durch einen Lichtstrahl, der Laura selbst ist, die Gunst ihrer Nähe (Discolorato hai, Morte, il più bel volto). Ihre Schönheit hat sich gewandelt zur Himmelsschöne – und das zu beschreiben (wenn Gott seine arme Kunst dazu begnadete!), würde die Welt aus den Angeln heben. Was bedeutet das?, fragte ich Juana. Würde die Welt aus den Angeln gehoben, weil Lauras Himmelsschöne unseren Begriff von Schönheit revolutionierte? Oder liegt der Grund in ihrer >Erscheinung an sich< in einer von der Kunst noch nicht gestalteten Sphäre? („Wer sich mit Petrarcas „Sonette an Madonna Laura“ beschäftigt, begibt sich in eine andere Sphäre des Denkens und Empfindens, als sie unseren Alltag prägt“, sagte ich anfangs, sagte ich zu Juana. – Nun sind wir vollends dort angelangt, wo nicht nur unser Alltag, sondern unsere gesamte >nüchterne< und an wissenschaftlichen Tatsachen orientierte Zeit sich abwendet und ihre Zuständigkeit leugnet.) Die äußersten Spannungen auszuhalten und zu beschreiben, war ein Merkmal der Sonette auch schon zu Lauras Lebzeiten; nach ihrem Tod intensiviert es sich höchstens noch: O holdes Bild, so ferne – kaum zu sehen – / Und dennoch nah, mich liebend anzurühren, heißt es in Se quell´ aura soave, de´ sospiri. Die >Ferne<, in die der Tod Laura gerückt hat, ist fast schon umgekehrt zu liebendem Anrühren. Dabei fällt eine >Aktivität< Lauras auf, die der Lebenden weitgehend fehlte. Und ängstlich fast, ich möchte irre gehen, – / Drängst du herbei, zum Ziele mich zu führen. Oder: Auf gradem Wege eilest du voran. / Ich hör dein züchtig Schmeicheln, deine Bitten; / Mit sanftem Zwang treibst du den Müden an. Dieses Zaubers Macht, vor dem er sein Herz nicht bewahren kann, ist – auf welche Weise auch immer! – neu für ihn. Nicht neu ist für Petrarca der >Absturz< aus hoher und höchster Gefühls- und Gedankenlage in Resignation und Verzweiflung. Die lebende Laura blieb entfernt von ihm; die tote bleibt es definitiv. Um die lebende Laura weinte Petrarca, wie er nun um die tote weint. (Zum Beispiel: Gli occhi, di ch´io parlai sì caldamente) Ich breche hier ab, Juana, sagte ich zu Juana. Ich habe die eingangs gestellte Frage, was die Liebe sei, nicht beantworten können. Dass du diese Zeilen wahrscheinlich nicht lesen wirst, soll mich über mein Unvermögen trösten.

[1] Fünfhundert Jahre später schrieb Annette von Droste-Hülshoff das Gedicht „Letzte Worte“: „Geliebte, wenn mein Geist geschieden, / So weint mir keine Träne nach; / Denn, wo ich weile, dort ist Frieden, / Dort leuchtet mir ein ewger Tag! // Wo aller Erdengram verschwunden, / Soll euer Bild mir nicht vergehn, / Und Linderung für eure Wunden, / Für Euern Schmerz will ich erflehn. // Weht nächtlich seine Seraphsflügel / Der Friede übers Weltenreich, / So denkt nicht mehr an meinen Hügel, / Denn von den Sternen grüß´ ich euch!“