EIN URALTES VOLK


Thomas Berger


EIN URALTES VOLK

aus: Solopart. Erzählungen. Offenbacher Editionen 2014, 55-57.

 

Unlängst wohnte ich in der Landeshauptstadt einem ungewöhnlichen Vortrage im Institut fürVölkerkunde bei, über den zu berichten gewiss von allgemeinem Nutzen ist.

Der Redner, ein kleiner, grau gekleideter Herr, versprach Einblicke in die vieltausendjährigeGeschichte seines Volkes. Er  zeigte  sich erfreut angesichts der großen Zuhörerschaft; denn es gebe, stellte er fest, wohl niemanden, der noch keinem der Angehörigen seines Volkes begegnet sei – dasWissen der meisten Menschen aber sei doch recht lückenhaft.

Seit Menschengedenken, fuhr der Vortragende mit sichtlichem Stolz fort, bevölkern wir zahlreicheLänder der Erde. Wäre je ein Forscher auf die Idee verfallen, unsere Heerscharen zahlenmäßig zu erfassen – er wäre zweifellos an kein Ende gelangt.

Was nun den Ursprung anbetrifft, so bestehen hierüber unterschiedliche, teilweise durchausehrenrührige, Ansichten. Im alten Ägypten glaubte man, die Geburt unseres Volkes verdanke sich der Glut der heißen Monate. Der griechische Philosoph Aristoteles hingegen mutmaßte, der Schmutz vonHäusern und Schiffen habe zu unserem Entstehen geführt. Auch der Aberglauben beschäftigte sichausgiebig mit uns. Demnach seien wir Geschöpfe des Teufels und stünden in dessen Dienst.

Es schwirrten, war weiter zu vernehmen, noch andere böse Gerüchte durch die Lande. Wennbeispielshalber ein Kind mit offenem Munde schlief, so brachte der Volksglauben uns ins Spiel,verbreitete allen Ernstes die Ansicht, die Seele des Schlafenden würde in Gestalt eines unsererVolksgenossen aus dem Munde entweichen. Traten wir in unüberschaubarer Menge auf oder lief einervon uns über ein Fensterbrett, sollte der Tod bedrohlich nahe sein. Nein, die abergläubischen Leutemochten uns nicht. Tauchten wir auf, bemühte man, bevor man uns forttrieb, Weihwasser oder stießBannflüche aus.

Wir verstehen natürlich, dass unsere Lebensweise auf heftigen Widerstand stößt; denn seitunvordenklichen Zeiten ziehen wir raubend und plündernd durch die Welt. Sind wir deshalb, fragte der Redner, verachtenswert? Ist es nicht unser vorbestimmtes Los? Und doch wurden gottesfürchtige Männerund Frauen, etwa Nicasius, Bischof von Reims an der Wende vom vierten zum fünften Jahrhundert, oderGertrud von Nivelles, Äbtissin im siebten Jahrhundert, feierlich in den Stand der Heiligkeit gehoben, weilsie, zumindest der Legende nach, uns verjagt haben.

Zuzeiten jedoch erfreuten wir uns großer Beliebtheit. In Kleinasien, Griechenland und Sizilien standenwir unter dem Schutz des Gottes Apollon. Erhaltene Abbildungen auf Münzen legen Zeugnis davon ab.In Tempeln nahm man unsere Hilfe bei der Götterbefragung in Anspruch. Noch heute rühmen unsBilder im oberbayerischen Wallfahrtskloster Andechs für unsere Verdienste um das Auffinden vonUrkunden und Reliquien. Auch steht mein Volk, ergänzte er, für zärtliches Empfinden, wovon bis auf denheutigen Tag Koseworte Kunde geben.

Unter den Tieren aber mangelt es uns nicht an Feinden, die uns entweder vom Boden oder von der Luftaus angreifen.

Auf dem Gebiete der Medizin ist die Einstellung der Öffentlichkeit uns gegenüber ambivalent. Teilswerden wir von der Bevölkerung für Krankheiten verantwortlich gemacht, beispielsweise fürLeptospirosen und die Pest; teils gelten wir als emsige Helfer gegen Erkrankungen – so bei Epilepsie undAugenstar.

Ich überlasse es dem geneigten Publikum, bemerkte der Sprecher, wobei er sich mit beiden Händenmehrmals über den Kopf strich, sich ein wahrheitsgemäßes Urteil zu bilden. Unzweifelhaft ist jedenfalls,dass mein Volk sich in der Neuzeit unschätzbare Verdienste um die Allgemeinheit erworben hat. UnsereOpfer für die medizinische und biologische Forschung können von anderen Völkern gar nicht hoch genuggepriesen werden.

An dieser Stelle brandete Beifall auf. Es schien, als wollte der Mann, auf dessen spitzem MundeSchweißperlen standen, noch etwas sagen. Doch er verneigte sich, wohl beglückt durch den Applaus, tief,sprang dann flink vom Podium und verschwand blitzschnell in einem Schlupfwinkel.