EIN URALTES VOLK


 

ERZÄHLUNG von Thomas Berger:

EIN URALTES VOLK

Unlängst wohnte ich in der Landeshauptstadt einem ungewöhnlichen Vortrage im Institut für Völkerkunde bei, über den zu berichten gewiss von allgemeinem Nutzen ist.

Der Redner, ein kleiner, grau gekleideter Herr, versprach Einblicke in die vieltausendjährige Geschichte seinesVolkes.Er  zeigte sich erfreut angesichts der großen Zuhörerschaft; denn es gebe, stellte er fest, wohl niemanden, der noch keinem der Angehörigen seines Volkes begegnet sei – das Wissen der meisten Menschen aber sei doch recht lückenhaft.

Seit Menschengedenken, fuhr der Vortragende mit sichtlichem Stolz fort, bevölkern wir zahlreiche Länder der Erde. Wäre je ein Forscher auf die Idee verfallen, unsere Heerscharen zahlenmäßig zu erfassen–er wäre zweifellos an kein Ende gelangt.

Was nun den Ursprung anbetrifft, so bestehen hierüber unterschiedliche, teilweise durchaus ehrenrührige, Ansichten. Im alten Ägypten glaubte man, die Geburt unseres Volkes verdanke sich der Glut der heißen Monate. Der griechische Philosoph Aristoteles hingegen mutmaßte, der Schmutz von Häusern und Schiffen habe zu unserem Entstehen geführt. Auch der Aberglauben beschäftigte sich ausgiebig mit uns. Dem nach seien wir Geschöpfe des Teufels und stünden in dessen Dienst.

Es schwirrten, war weiter zu vernehmen, noch andere böse Gerüchte durch die Lande. Wenn beispielshalber ein Kind mit offenem Munde schlief, so brachte der Volksglauben uns ins Spiel, verbreitete allen Ernstes die Ansicht, die Seele des Schlafenden würde in Gestalt eines unserer Volksgenossen aus dem Munde entweichen. Traten wir in unüberschaubarer Menge auf oder lief einer von uns über einFensterbrett, sollte der Tod bedrohlich nahe sein. Nein, die abergläubischen Leute mochten uns nicht. Tauchten wir auf, bemühte man, bevor man uns forttrieb, Weihwasser oder stieß Bannflüche aus.

Wir verstehen natürlich, dass unsere Lebensweise auf heftigen Widerstand stößt; denn seit unvordenklichen Zeiten ziehen wir raubend und plündernd durch die Welt. Sind wir deshalb, fragte der Redner, verachtenswert? Ist es nicht unser vorbestimmtes Los? Und doch wurden gottesfürchtige Männer und Frauen, etwa Nicasius, Bischof von Reims an der Wende vom vierten zum fünften Jahrhundert oder Gertrud von Nivelles, Äbtissin im siebten Jahrhundert, feierlich in den Stand der Heiligkeit gehoben, weil sie, zumindest der Legende nach, uns verjagt haben.

Zuzeiten jedoch erfreuten wir uns großerBeliebtheit. In Kleinasien, Griechenland und Sizilien standen wir unter dem Schutz des Gottes Apollon. Erhaltene Abbildungen auf Münzen legen Zeugnis davon ab. In Tempeln nahm man unsere Hilfe bei der Götterbefragung in Anspruch. Noch heute rühmen uns Bilder im oberbayerischen Wallfahrtskloster Andechs für unsere Verdienste um das Auffinden von Urkunden und Reliquien. Auch steht mein Volk, ergänzte er, für zärtliches Empfinden, wovon bis auf den heutigenTag Koseworte Kunde geben.

Unter den Tieren aber mangelt es uns nicht an Feinden, die uns entweder vom Boden oder von der Luft aus angreifen.

Auf dem Gebiete der Medizin ist die Einstellung der Öffentlichkeit uns gegenüber ambivalent. Teils werden wir von der Bevölkerung für Krankheiten verantwortlich gemacht, beispielsweise für Leptospirosen und die Pest; teils gelten wir als emsige Helfer gegen Erkrankungen –so bei Epilepsie und Augenstar.

Ich überlasse es dem geneigten Publikum, bemerkte der Sprecher, wobei er sich mit beiden Händen mehrmals über den Kopf strich, sich ein wahrheitsgemäßes Urteil zu bilden. Unzweifelhaft ist jedenfalls, dass mein Volk sich in der Neuzeit unschätzbare Verdienste um die Allgemeinheit erworben hat. Unsere Opfer für die medizinische und biologische Forschung können von anderen Völkern gar nicht hoch genug gepriesen werden.

An dieser Stelle brandete Beifall auf. Es schien, als wollte der Mann, auf dessen spitzem Munde Schweißperlen standen, noch etwas sagen. Doch er verneigte sich, wohlbeglückt durch  den Applaus, tief, sprang dann flink vom Podium und verschwand blitzschnell in einem Schlupfwinkel.