Thomas Berger
EIN LITERARISCHER WEG
Der Lyriker Johannes Chwalek
Aus den zahlreichen Gedichten des Mainzer Autors Johannes Chwalek (geboren 1959 in Flörsheim am Main) seien an dieser Stelle zwei ausgewählt. Beide sind neben vielen anderen auf dem Blog von Petra Seitzmayer (SchreibArt) veröffentlicht. Sie zeigen exemplarisch, welchen Lebenspfad die Moiren für den im bürgerlichen Beruf als Gymnasiallehrer für die Fächer Deutsch, Geschichte und Philosophie Wirkenden erkoren.
Das ihm zugeteilte Geschick enthüllte sich erst, als er in jungen Jahren als Schüler in ein Internat kam. War der Wechsel vom ungeliebten, eher hinderlichen familiären Haus in die Stätte der Bildung schon für sich genommen ein Fingerzeig, so erwies sich vollends die Begegnung mit dem Präfekten S. als entscheidende Wende hin zur eigentlichen Bestimmung des Jungen. Denn es war eben jener sich im wahren Sinn des Wortes als Pädagoge, als ein den Knaben umsichtig Leitender, erweisende Erzieher, der die schriftstellerische Begabung des ihm Anvertrauten nicht bloß erkannte, sondern förderte. Über Jahre führte er ihn behutsam in die Welt des Geistes und der dichterischen Sprache.
mit dir übte ich
mit dir übte ich
den aufrechten gang sehnte
mein orplid herbei
ich rauchte deine pfeife
du trankst meinen schwarzen tee
blüht nach jahrzehnten
blüht nach jahrzehnten
beiläufig gesprochnes wort
bittersüßer duft
reißen möge es mich ein-
mal noch über die grenze
Das lyrische Ich spricht vom „aufrechten gang“. In der anthropologischen Überlieferung ist der Ausdruck ein häufig anzutreffendes Motiv, das ein Wesensmerkmal des Menschen beschreibt, und zwar in doppelter Hinsicht. Als körperliches Phänomen macht es den Unterschied zwischen menschlichen und tierischen Lebewesen aus. Zudem wird damit die Vernunftbegabung des Menschen angezeigt. In Verbindung mit dem von dem Schriftsteller Eduard Mörike (1804-1875) entwickelten visionären Bild einer Südseeinsel (1) wird deutlich, worauf die beiden Gedichte zielen: Das nicht näher bezeichnete Gegenüber („mit dir“) – Lyrik ist mehr als Autobiographie! – eröffnete dem Ich die Sphäre des Denkens und weckte in ihm die Sehnsucht, in ebendieser Sphäre selbst wirken zu können. Ein Homme de Lettres zu werden – das ist das ersehnte Orplid.
Beide, das Ich und das Du, sitzen im Gespräch beieinander. Das freundschaftliche Verhältnis zwischen beiden ist durch den Tausch geschickt angedeutet: ich rauchte deine pfeife / du trankst meinen schwarzen tee. Johannes Chwalek hat die Szene im Titel seines 2019 erschienenen Romans Gespräche am Teetisch festgehalten. (2)
Wie schicksalhaft die Gunst des Präfekten S., deren sich der Schüler erfreuen durfte, für dessen Lebensweg wurde, klingt in der ersten Zeile des zweiten Gedichtes an: blüht nach jahrzehnten. Das im Präsens gehaltene Verb rückt die bleibende Wirkung eines wiederum nicht bekanntgegebenen, interessanterweise nur beiläufig geäußerten Wortes ins Bewusstsein. Warum erscheint es als bittersüßer Duft? „Bitter“ vielleicht, weil es dem Bereich des fern in der Vergangenheit Liegenden angehört, „süß“ gewiss wegen der unvermindert dem Gedächtnis eingeprägten Wirkung des Wortes.
Das Ich verlangt inständig, wenigstens einmal noch die Kraft dieses Wortes zu spüren, über die grenze geführt zu werden. Die Leser erfahren nicht, worin genau diese grenze besteht. Sie können es indes erahnen durch das Bild des aufrechten Ganges und das Orplid-Motiv: Die grenze markiert die Linie zwischen dem, was der Tätigkeit des Philosophierens und Schreibens entgegensteht, und dem Rege-Sein als Autor. Beide Gedichte drücken also den inneren Drang aus, den vom Los bestimmten Weg des literarischen Schreibens gegen alle Widerstände des Alltäglichen zu gehen. Die dafür erforderliche Energie speist sich für Johannes Chwalek nach wie vor aus dem Zutrauen und den Winken des bereits 1985 verstorbenen Präfekten S.
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(1) Eduard Mörike, Sämtliche Werke, Band I, München 1967, S. 724: Gesang
Weylas; S. 92-128: Der letzte König von Orplid. Ein phantasmagorisches
Zwischenspiel (in: Maler Nolten. Novelle in zwei Teilen)
(2) Johannes Chwalek, Gespräche am Teetisch. Roman, edition federleicht,
Frankfurt am Main 2019