Drei Miniaturen über das soziale Leben
- Was macht einen Menschen grausam und roh?
Notiz zum Zitat „Ist doch unsere zivilisierte Welt nur eine große Maskerade“
von Arthur Schopenhauer (1788-1860)
Grundsätzlich halte ich mich für einen zivilisierten Menschen. Meine Umgangsformen sind höflich. Anderen Menschen zolle ich Respekt. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ich einen anderen umbringen würde, ich käme ihm wohl nicht einmal zu nahe. Ich wage kaum eine Grenzüberschreitung, keine Übergriffigkeit.
Was würde da ein Krieg oder eine Katastrophe mit mir machen? So, wie ich gestrickt bin, würde ich wohl eher zum Opfer. Die Militärpolizei würde mich aus meiner Wohnung zerren, in ein Gefängnis schleppen und foltern. Wie, das mag ich mir nicht auszumalen. Es gäbe viele Möglichkeiten, mir einen solchen Schmerz zuzufügen, dass ich es nicht aushalten könnte.
In der Rolle des Folterers sähe ich mich aber kaum. Also frage ich mich, wie er so geworden ist. Was hat zu seiner Grausamkeit geführt?
Eine schwere innere Verletzung, gepaart mit Aggression statt mit Depression?
Eine massive Zurückweisung seiner Gefühle in seiner Vergangenheit?
Eine vollkommene Abspaltung seines eigenen Empfindens angesichts einer grausamen Gemengelage um ihn herum?
Die Gräueltaten der eigenen Nachbarn, die ansteckend wirken?
Das Nicht-mehr-Ertragen totaler Zerstörung?
Die vollkommene Verhärtung?
Das mechanische Ausführen eines Befehls?
Die emotionale Reduktion bis auf den Nullpunkt?
Das absolute Nichtvorhandensein von Empathie?
Die Humanität verachten, weil man sie nicht mehr in sich spürt?
Ich stelle Fragen und ich spekuliere, weil ich es mir nicht wirklich vorstellen kann, dass unsere zivilisierte Welt nur eine große Maskerade ist.
- Die Gewissheiten des Herrn K.
Herr K. war ein unauffälliger Mensch. Er trug einen sehr kleinkarierten Anzug mit einer anthrazitfarbenen Krawatte. Seine schwarzen Lackschuhe hatten blanke Spitzen. Herr K. hatte auch eine Aktentasche, mit der er täglich in sein Büro ging. Darin waren Dokumente, die nur seinen Chef und ihn etwas angingen. Herr K. war sich sicher, dass sein Chef nur Gutes mit den Dokumenten im Sinn hatte, die er für ihn transportierte und verwaltete. Er war sich auch gewiss, dass seine Lebensführung, Chef und Firma zu dienen, rechtens war. Denn täte er dies nicht, würde er die Pfade der Angemessenheit verlassen und dann würde er im Morast versinken. Auch darüber war er sich im Klaren. Umso strenger war er gegenüber sich selbst und folgte eisern dem von ihm selbst gewählten Pfad.
An einem Morgen nahm er seinen Weg zum Büro wie immer. Er starrte auf seine Schuhspitzen. Einmal ließ er sich vom Gezwitscher der Vögel ablenken und blickte in den Himmel, wo die Schäfchenwolken flogen. Er tat noch einen Schritt und trat plötzlich ins Leere. Durch einen offenen Kanaldeckel fiel er in einen Gullyschacht. Er fiel und fiel und kam nirgends an, weil er so unauffällig war, dass er nicht einmal irgendwo aufprallte.
3. Verbieten und erlauben
Gute Eltern sprechen Verbote aus. Das ist zum Nutzen ihrer Kinder. Kinder brauchen Orientierung und ein klares Richtmaß.
Schlechte Eltern lassen alles laufen. Sie können sich gegenüber ihren Kindern nicht durchsetzen, haben Angst vor deren Widerstand, Angst, von ihnen attackiert zu werden oder, was das Schlimmste ist, von ihnen nicht mehr geliebt zu werden.
Das ist die Angst der Eltern, dass das Kind sich ihrem Verbot verweigert, die Eltern bloßgestellt sind und dass ihre Wangen vor Schamesröte glühen.
Also lieber erst gar kein Verbot aussprechen. Kluge Kinder spüren von selbst, wo der Hase langläuft. Sie haben schon früh ein Empfinden dafür, was sich gehört und was nicht. Sie entwickeln ein Gewissen und lernen, ihre Entscheidungen daran zu orientieren.
Also geht es auch ohne Verbote?
Vielleicht nicht ganz, vielleicht genügen ein paar herzliche Empfehlungen. Hauptsache, die Kinder wissen sich geliebt und bei den Eltern geborgen. Dann können auch Konfliktsituationen gemeinsam bewältigt werden. Riskant ist es jedenfalls, mit Drohungen zu arbeiten. Dann ist es wie beim Struwwelpeter: Wenn du allein die Streichhölzer anzündest, verbrennst du lichterloh mit Haut und Haar. Oder: Wenn du dir ungefragt ein Hölzchen nimmst, dann darfst du nie mehr in meine Arme kommen. Oder du wirst deinen Papa nie wiedersehen.
Drohungen, mit denen man die Gefühle seiner Kinder verletzt, sind zu unterlassen.
Vor manchen Situationen muss man seine Kinder tatsächlich schützen. Da helfen weder Begründungen noch Erklärungen. Aber die elterliche Liebe muss immer spürbar bleiben.
Susanne Konrad