Dieser Krieg ist mein Krieg


Dieser Krieg ist mein Krieg

 

Dieser Krieg ist so nah, durch die intensiven Fernsehbilder, die die Tränen der Einzelnen in den Focus nehmen. Ich fühle mich, als säße ich selbst im Bahnhof von Przemysl und als wüsste ich nicht, wohin meine Reise weitergehen soll. Denn es könnte sein, dass ich in Polen Verwandte hätte oder aber auch nicht. Ich merke, dass ich nicht aufs Klo kann, dass mir vom Hunger und von der Anstrengung die Beine zittern, dass meine Lippen eingerissen sind, weil ich nichts mehr zu trinken habe und weil ich meine Creme nicht habe mitnehmen können. Ich bin jetzt eine junge Mutter und habe zwei kleine Kinder bei mir. Ich sehne mich nach Ruhe, aber die beiden weinen laut, denn sie sind auch hungrig, durstig und völlig übermüdet. Ich kann ihnen nur über die Köpfe streicheln und ihnen versichern, dass Papa bald wiederkommt. Jetzt weine auch ich. Es ist ein bitterer Abschied gewesen an der ukrainisch-polnischen Grenze. Meine Hände hat er fest umschlossen gehalten, mich noch einmal auf den Mund geküsst, dann ist mein Mann zurückgewichen. Er muss im Land bleiben, muss kämpfen, will es ja auch. Aber werden wir uns nochmal wiedersehen?

Vielleicht bin ich auch eine jung erwachsene Schülerin in Kiew, die sich in eine U-Bahn-Station gerettet hat, und bin völlig bestürzt darüber, dass meine Heimatstadt wirklich angegriffen wurde. Noch einen Tag vorher hatte ich das nicht für denkbar gehalten. Jetzt friere ich und muss endlos verharren, noch die ganze Nacht, ich tue kein Auge zu.

Aber vielleicht bin ich gar keine Ukrainerin und sehe wirklich alles nur im Fernsehen, eindringlich vor Augen geführt, damit auch die letzte verschlafene Zuschauerseele bemerkt, dass hier ein unfassbares Unrecht geschieht. Vielleicht bin ich es selbst, ein paar Wochen später, vor leeren Supermarktregalen irgendwo in Deutschland nach den letzten Konservenbüchsen suchend, es kaum fassen könnend, dass die Zeit des selbstverständlichen Wohlstands von heute auf morgen vorbei ist. Ich bin‘s, die ein rechtschaffender Feigling ist, der sich vor Gefängnis und Folter fürchtet. Also lieber nichts sagen, was Putins Marionettenregierung, die er installiert hat, nicht passt. Ein Feigling, der den Tod fürchtet, sei es durch einmarschierende Soldaten oder durch eine Mittelstreckenrakete, deren Ankunft ich zitternd erwarte. Vielleicht in den Armen meines Partners, vielleicht allein. Ich denke an die Geschwister Hans und Sophie Scholl, die gegen Hitler Flugblätter druckten und dafür mit ihrem Leben bezahlten, deren Widerstandskraft und deren Mut ich schon immer bewundert habe, ich verkrieche mich. Nun bin ich wieder in der Ukraine, erlebe die Beherztheit der Menschen, spüre die Energie, die ihn ihnen frei wird, um sich gegen die russische Invasion zur Wehr zu setzen.

 

Die Geschichte scheint zusammenzuschnurren, 77 Jahre vergehen wie nichts. Auch vor 1945 haben die Menschen versucht, ihr gewöhnliches Leben weiterzuführen. Sie lebten in Angst und Schrecken, aber sie saßen auch mal rauchend und Kaffee trinkend zusammen. Sie studierten die Tafeln mit den Vermissten, aber sie schickten ihre Kinder in die Schule und kontrollierten ihre Hausaufgaben. Sie sagten nicht offen, was sie dachten, aber sie lachten heimlich über politische Karikaturen. Sie riskierten und opferten ihr Leben im Kampf, aber sie schrieben auch Briefe nach Hause und klopften einander auf die Schultern. Die technologischen Mittel ändern sich, aber die grundlegenden Mechanismen des Krieges bleiben gleich. Erst Bedrohung, dann gezielte Angriffe auf strategische Ziele, die Aufforderung zur Kapitulation, der nicht nachgekommen wird, dann die breite Vernichtung der Bevölkerung und zuletzt die Einbeziehung der Bundesgenossen des Angegriffenen. Die Eskalationsschraube dreht sich immer weiter, und wenn man in der Kriegsmaschinerie befangen ist, dann sieht man nur den nächsten Tag und weiß das tatsächliche Ende nicht.

 

Dieser Krieg ist mein Krieg. Ich höre noch meine Eltern vom Zweiten Weltkrieg erzählen, da waren sie Kinder. Meine Mutter hungerte auf dem Land, mein Vater flüchtete aus einer großen Stadt. Wir Geschwister lachten darüber. Damals war halt Krieg. Aber die Worte von damals haben sich doch tiefer eingebrannt als gedacht, sie beflügeln jetzt mein Vorstellungsvermögen und meine Empathie. So mache ich mir diesen Krieg zu meinem und viel gehört auch nicht dazu. Denn die Mutter auf dem Weg nach Polen, der von verzweifeltem Mut getriebene Kämpfer zwischen zerschossenen Häusern, oder die ältere Witwe, die nicht mehr weiß wohin, sie alle bin ich.

 

Susanne Konrad