Die unsichtbare Gefahr — Covid-19 (Teil IV, II; Fortsetzung)
- 04. bis 14.05.2020
„Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.“ Hölderlin, Patmos-Hymne, 1803
Weitere mögliche Chancen der Corona-Krise:
Welche weiteren Chancen eröffnet diese globale Corona-Krise zudem? Zunächst die vielfältigen Chancen auf „Reglobalisierung“: sei es die teilweise Rückverlagerung von Pharma-Produktionslinien (Grundstoffe, Substanzen, u.a.m.) in die jeweiligen (europäischen) Staaten, anstatt deren Auslagerung nach China, Indien, Billiglohnländer aus Profitmaximierung.
Wie könnte die Reglobalisierung in den Bereichen der Tierhaltung, bei der Erzeugung gesunder Lebens-Mittel, fairer Textilien, etc. wohl aussehen? Ist „Regionalisierung“ das mögliche Rettende in der Gefahr? Ist „solidarische Landwirtschaft“ die tragfähige, die realistische Antwort auf die zur Zeit noch vorherrschende globale Tier- und Lebensmittel-Produktion in industriellen, exzessiven Maßstäben? Muss „fair Trade“ innerhalb des „Raubtier-Kapitalismus‘ “ eine bloße Illusion, eine humane Utopie, bleiben?? Oder eröffnet die Corona-Krise nicht nur die Chance auf eine Besinnung aufs Wesentliche, sondern zudem viele konkrete Schritte in die Umsetzung als „neue Realität“?
Wir könnten die jetzige Krise als Chance für eine Umgestaltung unseres Alltags nutzen. Wir könnten — was die „Globalisierung“ mit ihren krebsartigen Auswüchsen der Ausbeutung (siehe „West-Fleisch“, „Vion“, „Müller Fleisch“, et al.), und der sozialen Ungerechtigkeiten anbetrifft — einen Paradigmen-Wechsel vollziehen. Wir könnten sogar unser Konsum-Verhalten nicht nur überdenken, sondern ganz konkret verändern. Wir könnten unsere eigenen Verhaltens-Muster infrage stellen, überprüfen, neu bedenken und unsere Verhaltens-Weisen neu justieren. Wir könnten — gepresst von diesem kleinen „Etwas“, das das Virus ist — sogar zum vernünftigen „Maß der Mitte“ zurückkehren, anstatt weiterhin unseren Maß-los hedonistisch-egoistischen Extremen zu huldigen. Wir könnten unsere anthropologische Konstante des „Haben“ auf das vernünftige Ressourcen-Maß von einer Erde zurücknehmen und zudem unsere sozialen Kernkompetenzen in unserem alltäglichen Verhalten forcieren. Wir könnten die Corona-Krise sogar als jene Chance nutzen, um bereits bestehende Konzepte einer Zukunfts-Ethik schrittweise umzusetzen (vgl. u.a. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 1979). Vieles wurde bereits gesagt und geschrieben, wir müssten lediglich auf diese Quellen zugreifen, sie re-animieren. Covid-19 könnte für all dieses die kantische „Bedingung der Möglichkeit“ hergeben, sofern wir die Bedrohung als Chance auf das Rettende erkennen und ergreifen würden…— Was alles könnten wir jetzt anpacken und zum Positiven verändern! Jedoch: werden wir und, weit wichtiger: werden wir entsprechend agieren…—? Haben wir aus der jetzigen Krise irgend etwas Neues gelernt, das wir in unsere Zukunft als Lebens-Wert und lebens-wert mitnehmen werden, etwas, das wir als so wertvoll erachten, dass wir es in unserem Alltag nicht länger missen möchten?? Konjunktiv trifft Realis; mögliches Mensch-Sein trifft reales Mensch-Sein, eingebettet in skleröse, noch immer gültige, zerstörerische Verhaltens-Muster. Sind wir heutigen Menschen, aufgewachsen und psychisch verwachsen mit unsäglichem materiellen Wohlstand, wirklich zum Umdenken, zur Umkehr, zum ethischen „neuen Handeln“ bereit? Ich bin da skeptisch. Ich glaube, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen weltweit sehnsüchtig lediglich darauf wartet, ihr „altes Leben“ wieder aufnehmen zu können und damit ineins: die alten, verheerenden Fehlhaltungen und egoistischen Verhaltens-Muster.
Kontext-Intarsie: Apropos „alte Verhaltens-Muster“ und Denkweisen, etwa im Management der Luftverkehrs- und Auto-Industrie. Sofort wurde und wird der Ruf nach Bedingungs-losen „Staatshilfen“ (Deutsche Lufhansa AG) oder alten-neuen „Kaufanreizen“ (Abwrack-Prämien der Autoindustrie) laut und massivst via Lobbyisten in die Politik gepresst. Nach Schlingerkurs (DLH) und Diesel-Betrugs-Skandal (VW, Daimler, BMW, etc.) fordert man in den jeweiligen Chefetagen Milliarden an Steuergeldern „zur Rettung des Konzernes“ ein — ohne irgendeine Gegenleistung noch Korrektur seitens der Konzerne erbringen zu wollen — bei gleichzeitiger Wahrung der Aktionärs-Dividenden und persönlichen Vorstands-Boni.
Aber auch „der kleine Mann“ nebst der „kleinen Frau“ verhält sich bisweilen getreu der eigenen „alten Verhaltens-Muster“. Dann nämlich, wenn die viralen „Meinungs-Plebejer“ in Internet-Gruppen und auf Demos im öffentlichen Raum ihre „totale persönliche Freiheit“ einfordern und dabei geflissentlich übersehen, dass die Umsetzung des von ihnen Gemeinten alle anderen hochgradig gefährden würde. Eine gelebte, unsolidarische Geisteshaltung von: „Meine persönliche Freiheit geht mir über alles; was kümmern mich die Anderen…?“ Ein Sammelsurium aus Wutbürger*innen, Extremisten aller Couleur, Verschwörungs-Theoretiker*innen, Impfgegner*innen sowie anderer Lockdown-Gegner, einzig geeint in ihrem persönlichen Anliegen: „Wir sind dagegen, dass…“ Eine grassierende Ressentiment-Kultur einer Ressentiment-Elite; eine Subkultur Einzelner für Einzelne.
Für all diese Personen-Gruppen wie auch für uns anderen Bürger*innen gilt jedoch die berechtigte Frage: Gibt es innerhalb der Covid-19 Krise einen „Zurück“- oder „Reset“-Button, der es uns erlaubt, dorthin „zurück-zu-blättern“ oder auf dem linearen Zeitstrahl „zurück-zu-springen“, wo wir unser „altes Leben“ in gewohnten Bahnen unhinterfragt verleben konnten? Das Gestern als fortdauerndes Heute. Sozusagen: „Matrix reloaded“ — sagen wir, Salto mortale rückwärts in die „gute, alte Zeit“, so um den September 2019. Oder weiter zurück ins „Wirtschafts-Wunderland“ der 1960er Jahre. Oder noch weiter zurück in die „gute, alte Zeit“ der 1930er Jahre, wie es die ewig Vorgestrigen heute für uns alle wieder einfordern. Gibt es real ein „Zurück“…—? Zurück in ein erträumtes „Damals“, in eine heile Welt der „Arkadien“-Utopien (vgl. Vergil; „Bukolik“-Dichtung, etc.), die auch damals im realen hic et nunc voller Kriege, Flüchtlings-Elend, Leid und Not gewesen war; zurück in eine Zeit und Welt, die trotz der Realität aber dennoch von den meisten Menschen als irgendwie „angenehm“, „gut“ und entsprechend der eigenen Vorstellungen als „zufrieden“ erlebt werden konnte. Ein Damals, in dem sie selbst noch in scheinbar „gesicherten Verhältnissen“ zu leben glaubten. Oder gilt statt dieser Illusion in der Genealogie der Menschheits-Geschichte doch die Gesetzmäßigkeit der zeitlichen Linearität und damit ineins: You can’t rewind your life…— Wir können nicht die Realität wiederholen. Diesen Augenblick, der bereits Vergangenheit ist, sobald wir uns an ihn erinnern. Zwar können wir „Stundengläser“ um- und Uhren zurück-drehen, nicht jedoch die Zeit und mit ihr: die Realität. Denn die Zeit verfliegt und damit, unumkehrbar, auch unser Leben. Wiederholbar sind lediglich unsere Verhaltensmuster und damit ineins unsere Tag- bzw. Nachtträume.
Wieviel Chancen werden uns wohl noch zugespielt werden — der Menschheit in Summe; dem je Einzelnen — die wir wieder und wieder ungenutzt verstreichen lassen könnten? Pointiert gefragt: wieviele Chancen verbraucht der homo sapiens noch, diese rätselhafte, paradoxale Sphinx, die zurückblickend in-die-Zukunft-schaut, bis er verstehen wird: Ooops!, das war nun definitiv die allerletzte Chance, die ich ungenutzt habe verstreichen lassen, weil mir meine persönlichen Neigungen und liebgewonnenen Gewohnheiten zu wichtig waren…—? Der homo sapiens, der Vernunft-begabte Mensch, könnte jetzt aus seinem eigenen Verhaltens-Schatten hervor-treten; er könnte kraft seiner ordnenden Vernunft und seines systematisierenden Verstandes vorausschauend nach Maß & Zahl planvoll handeln. Kant’s „sapere aude!“ Aber will er’s? Will er wirklich, was er kann — oder kann er, innerhalb der Krise, jedoch scheinbar außerhalb der Gefahr, stets nur das, was er ohnehin schon immer will…—? Stillstand im Fortschritt; Bewegung des Kreis-Laufes; Wiederholen des ewig Gleichen — ad infinitum. Noch im Voran-Schreiten bleibt der Mensch, sich selbst stets genügend, der ewig sich-Gleiche. Ein paradoxales perpetuum mobile.
Retour:
Vielleicht fragen sich manche Leser*innen, warum ich die vier Kantischen Fragen als „roten Faden“ für die Essay-Reihe genutzt habe? Zweifache Antwort: Erstens, große Philosophie, auf den Alltag übertragen, kann Sachverhalte „aufklären“, kann mittels Kritik im Sinne von Unterscheidung, Vertrauen, Sicherheit und Halt hervorbringen. Im konkreten Fall: Ich kann Sach- und Fach-Wissen von bloßen Meinungen, Fake-News, Propaganda und gezielter Desinformation unterscheiden. Das ist mein „Gewinn“ innerhalb einer unsicheren, verwirrenden Zeit. Die „großen Philosophen“ (vgl. Monographie von Karl Jaspers), soweit sie auch geographisch oder zeitlich von uns Heutigen entfernt sein mögen, sind nicht „tot“, sondern sprechen zu uns, sofern es uns gelingt, ihre philosophischen „Gehalte“ in unser Leben zu übertragen und uns an-zu-eignen. Zweitens, echte Philosophie war zu keiner Zeit bloße „akademische Philosophie“ elitärer Zirkel oder aber das Geheimwissen philosophischer Schulen in attischen Hainen und Wandelhallen, sondern stets auch Alltags-Gestaltung. Dieser denkerische Ansatz spannt als „Praktische Philosophie“ einen mehr als 2.700-jährigen kulturellen Bogen von heute zurück bis zu Thales von Milet (625-545 v. Chr.) und seiner Anekdote von der „Olivenernte“. Gleiches, einen interkulturellen philosophischen Bogen spannen, gilt für alle anderen Philosophinnen und Philosophen weltweit, mögen sie nun asiatischen, indischen oder sonstigen Hochkulturen entstammen. Nicht die Sprache noch die geographische Herkunft entscheidet über die historische „Spur“, die diese Menschen in die Menschheits-Geschichte gelegt haben, Samenkörnern gleich, die der Sämann in die Ackerfurche legt, auf dass sie hundertfältige Frucht erbringen, sondern deren „Wahrheits-Gehalt“. Weises Leben und vernünftiges Handeln vollziehen sich stets im Hier des Jetzt. Jeder Einzelne von uns kann sich kleine und große Wahrheiten aneignen und konkretisieren als sein Leben und auf diese Weise helfen, die „Spur“, den gemeinsamen Weg der philosophia perennis, in die Zukunft zu legen.
Hinweise
Klassifikation, Struktur u. Aufbau des Covid-19 Virus
https://www.pharmawiki.ch/wiki/index.php?wiki=Covid-19
Rückgang der weltweiten Luftverschmutzung durch Covid-19 Lockdown, esa
https://www.esa.int/Applications/Observing_the_Earth/Copernicus/Sentinel-5P/(archive)/0