Die unsichtbare Gefahr — Covid-19 (Teil II)
- bis 18.04.2020
„Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.“ Hölderlin, Patmos-Hymne, 1803
Noch immer durchschreiten wir anhand Kant’s 1. Frage („Was können wir wissen?“) sowie der zweiten Frage („Was sollen wir tun?“) den offenen Horizont der Pandemie-Problematik. Nun auf unsere Existenz angewendet.
Der erste Teil dieser Essay-Reihe endete mit der Feststellung, dass Covid-19 unsere Existenz auf zwei völlig unterschiedlichen Ebenen bedroht, wodurch zur Zeit Menschen weltweit verunsichert werden. Im Nachfolgenden wird es zunächst um eine eher „äußere Ebene“ unserer Existenz gehen, es ist die durch den „Shutdown“ / „Lockdown“ bedrohte wirtschaftliche Ebene. Eine von außen auf uns zukommende Situation stellt als Bedrohung unsere wirtschaftliche Existenz in Frage, bedroht unsere wirtschaftlichen Grundlagen einer „Existenzsicherung“. Diese Gefahr löst als Bedrohung „Existenz-Angst“ in unserer Psyche aus. Dies ist die „horizontale Angst“ in unserem derzeitigen Erleben.
Daneben gibt es zudem eine „innere Ebene“ der Angst, die u.a. auch durch unser aktives Verhalten gesteuert wird. Diese Angst ist wesentlich, d.h. es ist jene Angst um unser eigenes Leben, z.B. Todesangst. Sie kann einerseits durch die Bedrohung durch den Covid-19 Virus in uns ausgelöst werden, oder aber andererseits als existentielle Unsicherheit durch unser Informations-Verhalten verursacht werden. Diese Angst, die unmittelbar unser Leben als Ganzes zu bedrohen scheint, nenne ich „existentielle Angst“. Sie ist die „vertikale Angst“, da sie alle Schichten unserer Persönlichkeit infiltrieren und gleichsam zersetzen kann. Um sie wird es überwiegend im nächsten Teil der Ausführungen gehen.
Wenden wir uns zunächst der wirtschaftlich basierten Existenz-Angst zu.
Die zweite Ebene der Bedrohung, der Gefahr:
- die „innere Schwebe“ des Zweifels als „Existenz-Angst“
Existenz-Angst, ausgelöst durch den drohenden Verlust unserer wirtschaftlichen Basis:
„Nach Golde drängt, Am Golde hängt / Doch alles! Ach, wir Armen!“, heißt es bei Goethe (vgl. Faust I, Abend. Margarete in ihrem Zimmer). Seit 75 Jahren kennen weite Teile der europäischen Bevölkerung nur eine einzige, wirtschaftliche Bewegung: dass es den Kindern materiell einmal besser gehen werde, als der vorhergehenden Generation. Die 1950er und 60er Jahre des „deutschen Wirtschaftswunders“, die europäischen Freihandelsräume des sog. „Schengenraumes“ (Juni 1985ff.), die Globalisierung der Welt ab Ende der 1980er Jahre. Das alles schuf für Viele — jedoch nicht für Alle — einen gewissen Wohlstand, der sich, seit auch der „kleine Mann“ sich Aktien und andere Wertpapiere in nennenswertem Umfang leisten kann, kontinuierlich auf- und ausbaute. Geld und „Gold“ war nicht nur für New Yorks „Gordon ‚Golden‘ Gekkos“ (vgl. „Wall Street“, 1987) die „Radnabe“, worum sich alles Leben, ja jegliche Existenz, in immer schnelleren Zyklen drehte. Dow Jones, Nasdaq, DAX, etc.pp. kannten weltweit nur eine einzige Richtung: nach oben. Bis vor wenigen Wochen galt deshalb hinsichtlich unseres materiellen Wohlstandes: The only way is up!! Kein Mensch konnte sich diesem Sog des „Haben“ und dieser Gier nach Geld wirklich entziehen. Selbst die Ärmsten der Armen nicht. Allein, ihnen fehlten die finanziellen „Ressourcen“, um bei diesem „Monopoly“ mitspielen zu können. So gehörten sie zu den sozialen Verlierern einer beispiellos erfolgreichen, globalen Finanz-Industrie, die einerseits wenige Reiche „superreich“ macht(e) und auf der anderen Seite viele Arme produziert(e), die den Preis für diese Entwicklung weltweit bezahlen. „Let’s make money!“ (vgl. Doku von Erwin Wagenhofer, 2008)
Erste Risse bekam dieses „Monopoly-Imperium“, als 2007-2009 die globale Finanzkrise die Weltwirtschaft erschütterte. Das Kartenhaus der Investment-Banker, der Broker, der Zocker und Monopoly-Spieler geriet gefährlich ins Wanken. Allein, alle „systemrelevanten Banken“ und Bänker wurden mit Billionen von US-Dollars gerettet. Vorstände wie etwa Josef Ackermann („Deutsche Bank AG“) verdienten an den Pleiten Millionen. Bald war alles wieder beim Alten, und das Monopoly-Spiel ging für die „masters of the universe“ (vgl. gleichnamige Doku von Marc Bauder, 2013) gerade so weiter, als ob es nie eine Finanzkrise gegeben hätte. Dies war seinerzeit nur deshalb möglich, da die übrige Weltwirtschaft stabil war, produzierte, verkaufen konnte, und der Verbraucher bzw. Kunde noch immer genügend privates Vermögen hatte, um, mehr oder minder Sorgen-frei, konsumieren zu können.
Heute, in der Covid-19-Krise, ist das jedoch vollkommen anders: schon wenige Tage des globalen „Shutdown“ ließen die Börsen weltweit desaströs abstürzen, so dass der Aktien- bzw. Wertpapier-Handel tageweise ausgesetzt werden musste. Börsennotierte „Global Player“ stürzten mit ihren Aktienwerten ins Bodenlose. Globale Wertvernichtung in bis dato unbekanntem Ausmaß. Der Verlust und die Vernichtung an materiellen Werten war so katastrophal, dass sich Menschen weltweit fragten, wie umfassend die wirtschaftliche Krise wohl zuletzt sein und wohin diese destruktive Situation wohl noch führen werde. Wann und wo, d.h. in welcher Wirtschafts-Katastrophe, würde der „Sturz ins Bodenlose“ enden? Etwa in einer weltweiten, massiven Rezession? Das Credo der Globalisierung: „Wohlstand für alle“, mit einem Schlag demaskiert als „Lug & Trug“? Nichts als ein lausiger „Taschenspieler-Trick“?? Und vor allem: Wo würde man persönlich am Endpunkt dieser wertvernichtenden „Talfahrt“ dann sowohl ökonomisch als auch gesellschaftlich stehen?? Ruiniert? Bankrott?? Haus & Hof „verspielt“, verpfändet, verloren?? Hätte man noch wahre Freunde, existentiell tragende Beziehungen außerhalb des Geldes („Nobody knows you, when you’re down and out…“, Eric Clapton)?? Angst um den Verlust des bisher erreichten Wohlstandes und daraus folgend, Angst um den Verlust alles dessen, was an diesen Wohstand geknüpft ist, machte sich, psychologischen Schockwellen gleich, weltweit breit. Wir mussten uns eingestehen: Unser als fraglos sicher geglaubter Wohlstand ist letztlich gänzlich ungesichert; selbst in Friedenszeiten gleicht diese vermeintliche, diese trügerische Sicherheit, einem nebulösen „Schall & Rauch“; ist in Wahrheit nichts weiter als eine „schillernde Fassade“, ein einziges, globales „Potemkinsches Dorf“. So machte Corona Covid-19 alle gleich — ängstlich. Scheinbar stabile „Fundamente“ unseres Lebens erodierten über Nacht zu „Treibsand“. Geld und Gold, wonach wir alle doch so sehr drängten und unser Leben lang strebten, erwiesen sich bereits nach wenigen Tagen des „Shutdowns“ als Schein-Werte — und unsere so sicher geglaubte „Konsum-Welt“ als bare Illusion. Denn: Geld „hat“ man nicht, sofern man nicht zu dem 1% der Superreichen gehört. Geld verdient man, indem man seine Arbeitskraft einem Arbeitgeber zur Verfügung stellt. Im Shutdown braucht die Wirtschaft jedoch kaum noch Arbeitnehmer*innen. Das Geldverdienen hat ein abruptes Ende. Damit steigen jedoch die wirtschaftlichen Ängste in uns auf. Noch weit vor der Angst vor einer Infektion an Covid-19 und deren gesundheitlichen Folgen, haben wir vor allem Angst vor gesellschaftlichem Abstieg, der für uns bei anhaltendem Verdienstausfall immer unausweichlicher wird. Es droht uns ein Horror-Szenario: Rückfall in die materielle Not und gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit von vorigen Generationen. Das „Undenkbare“ im ökonomischen System der „Globalisierung“ — Armut für alle — könnte nun, ausgelöst durch ein unsichtbares Virus, allgemeine Realität werden. Unser fragloses Credo, unsere unhinterfragbare Weltanschauung des „Größer, Schneller, Weiter, Reicher…“ ist bis in ihre Grundpfeiler erschüttert und wankt nun bedrohlich. Wird unsere materielle Weltanschauung wie einstmals die Zwillingstürme des „World Trade Centres“ in New York mit einer Geste der Grandezza in sich zusammenstürzen? Von einem ca. 140nm kleinen „Etwas“ in ihrer Statik tödlich getroffen…? Dies ist die „horizontale Schockwelle“, die durch unser materiell orientiertes Bewusstsein des „Habens“ rast, und gerade all unseren „Status“ und gesellschaftlichen Erfolg radikal in-Frage-stellt. Deren Folge: Existenz-Angst in unbekannten, bis dato undenkbaren Ausmaßen. Unsere wirtschaftlichen Fundamente untergraben, unterspült…—
Existentielle Angst, ausgelöst durch den drohenden Verlust unserer Gesundheit:
Diese „horizontale Schockwelle“ einer Existenz-Angst wird nun zudem von einer „vertikalen Schockwelle“ der Angst begleitet, die durch unsere „Existenz“ im Sinne von Karl Jaspers, et al. rast, und all unser Leben „in die Schwebe“ bringt. „Existenz“ wird nun als unser „Eigentlich-Sein“, als unser „Wesen“, als unser „Leben als Ganzes“, etc.pp. verstanden und ist folglich weitaus mehr, als „nur“ unsere „wirtschaftliche Existenz“. Deshalb bedroht diese vertikale Schockwelle nicht unsere wirtschaftliche Basis, sondern Covid-19 bedroht unser Leben als Ganzes bis auf den Tod und bringt uns auf diese Weise vor die „entscheidenden Entweder – Oder“ (vgl. Kierkegaard). Wie lautet angesichts der ständig steigenden Todeszahlen unsere individuelle, unsere ganz persönliche Antwort auf unser Leben? Ist’s eine Kasperleantwort à la Trump & Co.? Gegeben, in der stillen Hoffnung, dass man persönlich letztlich doch zu den glücklichen 30% Nichtinfizierten gehören werde. Quasi: Im Krieg wie auch in der Covid-19 Pandemie sterben immer nur „die Anderen“, ich selbst aber nicht…— Bis uns dann die Realität doch einholt. Herein-holt in die reale Gefahr. Hegels Wort von der „ungeheuren Macht des Negativen“ nun gewendet als Ant-Wort einer Pandemie auf eine globalisierte Welt…—
Geben wir vielleicht eine hedonistische Antwort eines spätmittelalterlichen „Totentanzes“? Geflissentlich übersehend, dass es sich bei diesem „Tanz“ nicht um ein „Saturday Night Fever“ (1977), sondern um ein memento mori handelt? Fanden die Covid-19-Infektionsketten in Europa nicht ihren Ausgang in Apré Ski-Diskotheken, Kappensitzungen, Starkbieranstichen, u.ä.m.? Das Abfeiern inmitten unserer Lebens-Lust als direktes Spiegel-Bild, Seiten-verkehrt, unseres möglichen Sterbens? Hēdonḗ als direkte Ursache unseres ganz persönlich möglichen Todes? Memento mori! Könige und Landstreicher, Richter und Vogelfreie, Alte und Kinder, der „Totentanz“ ermahnte einstmals alle Menschen, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Position, dass sie Sterbliche unter Sterblichen sind, und dass der Letzte im Leben, dem sie begegnen werden, der Tod sein wird. Ihr eigener. Sie jedoch, bereits im Leben, ihm zu eigen. Zwar haben sich die heutigen gesellschaftlichen Positions-Titel geändert — aus dem König wurde ein Konzernvorsitzender, aus dem Landstreicher ein Obdachloser, aus dem Vogelfreien ein Flüchtling; auch sagen wir nicht mehr „reich wie Krösus“, sondern „reich wie Jeff Bezos, Bill Gates, etc. …“ — allein, der Tod macht uns alle gleich: sterblich. Damals wie heute. Seine konkrete Drohung hebt all unser Leben aus seinen Dreh- und Angelpunkten; zwingt unsere Persönlichkeit in existentielle Angst; nötigt uns zugleich, nach Wesentlicherem (als Gold und Geld) zu fragen.
Welche Antwort auf unsere Existenz geben wir, wenn wir als Ganzes unausweichlich in-Frage-gestellt werden? Radikaler denn je — in Friedenszeiten…— Wie die Pandemien des „Schwarzen Todes“ (Mitte des 14. Jhdts.) sowie die „Spanische Grippe“ (1918-1920), so stellt nun Covid-19 die existentielle Frage an jeden Einzelnen von uns: Aus welchen „Gründen“ und Werten lebst Du? Es ist mithin die Frage nach unserem Mensch-Sein, unserem Wahr-Sein, unserem unverwechselbaren Eigentlich-Sein. Covid-19 ist die Totenglocke unseres hedonistischen „Maskenballs“, dieses gauklerhaften „Jahrmarktes der Eitelkeiten“, der uns bisweilen „Leben“ heißt und leider oftmals auch Leben ist. Ein Leben im Oberflächlichen, Lustigen, Spaßigen, Unernsten, Betrügerisch-Trügerischen, im Unredlichen, Unwahrhaftigen…— Nimmt’s wunder, dass in einer solch emotionalen Gemengelage „die Nerven blank liegen“, dass es nun, da alle Lebens-Pfeiler einzuknicken drohen, nun, da alle „Masken“ heruntergenommen und unsere Maskeraden abrupt beendet werden, vermehrt zu „häuslicher Gewalt“ kommt, weltweit; dass sich Nachbarn nun gleichsam „zu Tode fürchten“, wenn ihre Nachbarin, eine Krankenschwester, vom Dienst (an Corona-Kranken…) nach Hause kommt, von einem aufopferungsvollen Dienst am Nächsten, der auch sie selbst, einer selbstlosen „Mutter Teresa“, einer „Florence Nightingale“ gleich, mit dem Tode bedroht; dass es zu Gewalt gegen Angestellte von Supermärkten, Kaufhäusern, Bauhöfen, etc. kommt; dass man sich nun um „die letzte Rolle Klopapier“ prügelt, als gelte es das Leben…—? Was ist daran , an einem aggressiv-egoistischen Verhalten in „höchster Gefahr“, so verwunderlich?? Ein bis in seine Grundfesten erschütterter Überlebenswille, der nichts als sich selber will, erfährt nun, dass er jeglichen „Boden unter den Füßen“ verloren hat. Überlebenswille, der nichts als sich selber will, erlebt nun, dass er durch äußere Umstände „in die Schwebe“ gebracht wurde und zeigt an, dass er nur noch eines will: „Ich selbst will leben!“
Im dritten Teil wird es um die „existentielle Angst“ als unmittelbare Folge von unkritischer Informations-Sammelleidenschaft gehen. Der Info-Nerd im Mahlstrom aus bloßen Meinungen sowie wissenschaftlichen Erkenntnissen bzgl. der Covid-19 Pandemie. Wenn der Zweifel selbst zum existentiellen Kompass wird.