Die Umkehr eines Nationalsozialisten


Die Umkehr eines überzeugten Nationalsozialisten

Eckehardt Dietrich erzählt als mittelbarer Zeitzeuge am Gymnasium Mainz-Oberstadt von seinem Vater

Ein Bericht von Johannes Chwalek

 

Im Januar 2015 besuchte Eckehardt Dietrich, Jg. 1935, zum dritten Mal das Gymnasium Mainz-Oberstadt, um im Geschichtsunterricht der Klasse 10c seine Erlebnisse und – besonders – die seines Vaters Max Dietrich in der NS-Zeit zu schildern. Vor den Weihnachtsferien hatte er bereits den Schülerinnen und Schülern der beiden anderen zehnten Klassen des Gymnasiums in der Hechtsheimer Straße 29 von den Erfahrungen seiner Familie im braunen Terror berichtet. Seine Motivation legte der pensionierte Kriminologe gleich zu Beginn seiner Ausführungen dar: Er habe an sich selbst gemerkt, wie leicht Kinder und Jugendliche von Erwachsenen manipuliert werden können. Leider wiederhole sich dies heute, etwa bei Kindersoldaten in Afrika oder der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien und Irak. Davor zu warnen, suche er mit seiner Familiengeschichte den Kontakt zu jungen Menschen.

Seine eigene Zeitzeugenschaft beziehe sich auf eine kurze Spanne, als er auf Befehl des damaligen „Reichsführers SS“ Heinrich Himmler in ein NS-Erziehungslager in Neuburg an der Donau überstellt wurde. Meldungen bei Vorgesetzten hatte er dort zu beginnen mit „Jungmann Dietrich“. Damals sei er vom NS vollständig indoktriniert gewesen. Aber was war der Grund seines Aufenthaltes in Neuburg an der Donau? Hier erzählte Eckehard Dietrich von seinem Vater Max D., der im NS-Staat ein tragisches Schicksal zu gewärtigen hatte.

Max D. war Jahrgang 1910. Er hatte in seiner Schulklasse einen jüdischen Mitschüler namens Jakob, der von manchen Klassenkameraden und auch Lehrern gemobbt wurde. Bei einem Ausflug wurde Max D. von andren Jungs aufgefordert, von der Neckarbrücke ins Wasser zu springen. Er tat es schließlich, schlug sich jedoch im flachen Wasser den Kopf auf und trieb ohnmächtig mit der Strömung davon. Nur ein Junge sprang ihm hinterher, um ihn zu retten: Jakob. Von da an war Max D. eine Art Beschützer für seinen Lebensretter Jakob im Schulalltag.

Wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten im Elternhaus musste Max D. die Schule verlassen. Er verlor zunächst den Kontakt zu Jakob. Bei den Nationalsozialisten fand er eine zweifelhafte Ersatzheimat, wurde als vermutlich jüngster SA-Mann mit 16 Jahren von Hitler persönlich beglückwünscht, wurde Sportlehrer und Ausbilder in einer SA-Schule und brachte es in der NS-Hierarchie bis zum Ortsgruppenleiter und Führer des SA-Sturms in Überlingen am Bodensee.

Als SA-Mann musste Max D. Polizeiaufgaben wahrnehmen. Der Befehl, einen Ofensetzermeister zu verhaften, Vater von mehreren Kindern und ein religiöser Mann, weckte erste Zweifel am NS-Regime. Er riet dem Mann, sich krank zu stellen und meldete „Haftunfähigkeit wegen Krankheit“.

Eine Parteikarriere schien auf die Dauer unsicher zu sein, deshalb absolvierte Max D. eine Ausbildung zum Zollbeamten und wurde – wieder in Überlingen – eingesetzt. Um die Kontrollen zu verschärfen, wurden Hilfszöllner zwangsverpflichtet und Boote konfisziert. Ein SPD-Mann, der als Fischer arbeitete, wollte sich weigern und gab erst dem ängstlichen Drängen seiner Frau und den mahnenden Worten Max D.s nach. Dieser Fischer sollte noch eine Rolle spielen in der Biografie des Vaters Eckehard Dietrichs.

Weiteren Zweifel am NS-Regime bekam Max D., als er im November 1938 den Befehl erhielt, die Synagoge im nahen Konstanz niederzubrennen. Die SA-Männer, die er für diese „Aufgabe“ zusammen holte, waren nicht alle begeistert. Dann traf ein Telegramm ein, das Max D. und dem SA-Trupp die Schändung der Synagoge in Konstanz untersagte; die SS Radolfzell war dafür schon unterwegs…

Eckehardt Dietrichs Vater verdrängte weiterhin, was es mit dem NS-Regime auf sich hatte. Ein Telefonanruf veränderte sein Leben – es war sein ehemaliger Klassenkamerad Jakob. Er bat um Hilfe für die Flucht in die Schweiz. Max D. schwirrte der Kopf. Mit einer solchen Hilfe würde er „die Partei“ verraten, alles, woran er geglaubt und wohin er erzogen wurde. Andererseits war Jakob sein Lebensretter gewesen, als er ihn nach dem Sprung von der Neckarbrücke aus dem Waser gezogen hatte. Nun konnte er sich bei ihm revanchieren… Der Landweg war sinnlos, der Seeweg die einzige Möglichkeit. Er musste ein Boot besorgen und erinnerte sich des Fischers und SPD-Mannes, der sich zunächst geweigert hatte, Hilfszöllner zu werden. Nun willigte dieser Mann ein, Fluchthilfe zu leisten. Allerdings wollte er sein Boot nicht hergeben, sondern selbst steuern. Zur Tarnung brach er mit Fischernetzen auf – die er gleich wieder zurücklassen musste, als klar war, dass vier Personen im Boot sein würden: der Fischer selbst, Max D., Jakob und noch ein weiterer älterer Jude. Eigentlich war das Boot überlastet. Das Wetter war schlecht, der Kurs ging verloren, der Kompass war kaum lesbar; beinahe wären sie mit einem Zöllnerboot kollidiert. Endlich gelangten sie glücklich in Kreuzlingen in der Schweiz an; in St. Gallen sollten die beiden Flüchtlinge von einer Kontaktperson mit Papieren ausgestattet werden.

Es würde zu weit führen, die ganze Geschichte von Max D. hier auch nur zusammenzufassen; Eckehardt Dietrich hat sie unter dem Pseudonym Maximilian Harding und dem Titel „Übrig blieben Scherben. Die Umkehr eines überzeugten Nationalsozialisten“ in der edition fischer (ISBN 978-3-89950-836-9) veröffentlicht. Deshalb hier nur noch so viel: Ausgerechnet Jakob, dessen Weg in ein Internierungslager in der Schweiz geführt hatte, brachte ohne Absicht und über Umwege die Gestapo unwissentlich auf die Spur seines Retters, der auch von Frankreich aus, wohin er stationiert wurde, Juden in die Schweiz geschleust hatte. Max D. wurde verhaftet und wochenlang verhört. Er leugnete standhaft. Nachweisen konnte man ihm nichts, aber es blieb ein Restverdacht. Heinrich Himmler verfügte, dass er sich „freiwillig“ an die Front nach Russland melden sollte, seine Kinder kamen in das NS-Erziehungslager. In Russland erlitt Max D. eine schlimme Schussverletzung, die ihm beide Augen kostete; auch das Gehirn wurde in Mitleidenschaft gezogen. Er überlebte das Grauen und konnte später sogar als Stenotypist ausgebildet werden und wieder arbeiten. Mit der Ideologie des Nationalsozialismus hatte er gebrochen.

Im Klassenraum des Gymnasiums Mainz-Oberstadt war es ganz still bei diesen Erzählungen Eckehardt Dietrichs. Am Schluss der Stunde beteiligten sich viele Schülerinnen und Schüler am Gespräch mit dem Zeitzeugen. Solche Unterrichtsstunden vergisst man nicht.

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