Bernhard Ruppert
Johannes Chwalek
Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes
Rundgänge mit Heraklit, Teil 2
III
Ich gehe weiter und biege zur Westseite des Konvikts ein. Der Weg wird hier so breit, dass ihn unterhalb der Küchenfenster ein oval geformtes Blumenbeet teilen kann. In dieses Blumenbeet stelle ich mein nächstes Transparent (würde ich mein nächstes Transparent stellen):
Wenn er’s nicht erhofft, wird er das Unverhoffte nicht finden. Denn sonst ist’s unerforschlich und unzugänglich.
Kann ich als Synonym für das Unverhoffte das Besondere wählen? Wer ist in der Lage, sich Besonderes zu verschaffen? Manche können das Besondere genießen und wissen nichts von ihrer Bevorzugung durch das Schicksal; sie haben vielleicht geerbt oder leben von Geburt an in besonderen Verhältnissen. Das betrifft vorrangig Materielles. Aber auch die Bevorzugung durch das Talent ist denkbar. Aus einfachen Verhältnissen kann das Talent in märchenhafte Bahnen führen. Heraklits Ausspruch setzt vor das Nomen des Unverhofften das Verb „erhofft“; ein Tätigkeitswort, das ein inneres Ringen und einen Kampf anzeigt. Doch wie kommt es dazu, dass jemand das Unverhoffte erhofft? Ist das Erhoffen, dessen Erfolg keineswegs gesichert ist, nicht auch schon eine Bevorzugung durch das Schicksal, indem jemand sich gedrängt fühlt, über das unmittelbar Gegebene hinauszukommen und für diesen Drang selbst nichts kann? Andererseits wird dieser Drang vielleicht auch zum Fluch, wenn jemand ein Leben lang die Sehnsucht nach dem Unverhofften verspürt, ohne jemals zu greifbaren Ergebnissen zu gelangen. Wenn man sich im Materiellen bescheiden soll mit dem, was man hat (und dies als Klugheit und ersten Schritt zur Weisheit betrachtet wird) – soll man sich auch im geistigen Streben bescheiden, wenn man merkt, dass die Kräfte nicht ausreichen? Was ist besser: die Sehnsucht aufzugeben oder aufrecht zu erhalten? Bedeutet die Aufgabe nicht den Rückfall in den Alltag, verstanden als glanzloses Einerlei des Lebenskampfes?
Ich muss ein paar Schritte gehen, „um weiter zu kommen“, mag es auch nur ein Auf- und Abgehen sein! Philosophen versuchen die Dinge von Grund auf zu bedenken. Aber wenn man das tut: Bleiben die Dinge dann noch eindeutig, oder beginnen sie nicht vielmehr zu schillern und zwei, vielleicht sogar noch mehr Bedeutungsebenen anzunehmen? Warum werte ich beispielsweise den Alltag ab? Ist es nicht bewundernswert, wie viele ihn meistern, ohne je dabei dem Unverhofften und Außerordentlichen begegnen zu können? Ihr Leben besteht vielmehr „in der Ordnung“, in hergebrachten, vorgegebenen Bahnen, die viele andere genauso gut ausfüllen können. Immer wenn ich die Ordensschwestern hier im Haus sehe, die täglich in der Küche vier Mahlzeiten zubereiten, Frühstück, Mittagessen, Kaffee und Abendessen, denke ich daran. Ihre Ordenstracht verwischt das Individuelle so weit es geht. Sie werden von ihrem Orden hier- oder dorthin gerufen und mit Aufgaben betraut, die sie erfüllen. Schwester Theodosia soll vierzehn Jahre lang im Konvikt gedient haben, dann ist sie gestorben (hier im Konvikt; der Rektor hat ihr die Sterbesakramente gespendet), eine neue Schwester reiste an, um ihren Platz einzunehmen. Könnte ich das, mich dermaßen ein- und unterordnen, und wenn ich sterbe, nimmt jemand meinen Platz ein und alles läuft nahtlos weiter, als ob ich nie gewesen wäre?
„Jeannot!?“
ICH (aufsehend und – Ludwig Gärtner erblickend): Ja?
GÄRTNER: Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt!
ICH: Nein, nein, schon gut. (Verwirrt bin ich; steht da tatsächlich Ludwig Gärtner, den mir der Prä gerade empfohlen hat!)
GÄRTNER: Darf ich dir was gestehen?
ICH: Gestehen?
GÄRTNER: Das soll jetzt nicht dramatisch klingen! Aber ich denke schon eine Zeitlang über dich nach.
ICH: Über mich? (Wie dumm meine Reaktionen sind! Habe ich nichts Besseres zu entgegnen, als seine Worte fragend zu wiederholen?)
GÄRTNER: Du bist intellektuell interessiert, stimmt’s?
ICH: Ja, schon…
GÄRTNER: Auf welchem Gebiet?
ICH: Literatur, Philosophie… Hier zum Beispiel habe ich mir Aussprüche von Heraklit notiert und denke darüber nach. (Fragt er jetzt wie der Prä, ob er meine Zettel mal sehen darf?)
GÄRTNER: Von Heraklit aus Ephesos! Warst du schon einmal in Ephesos?
ICH: Nein.
GÄRTNER: Heute ein „Nest“, seinerzeit ein „Rom“, ein „New York“, eine Welt-Stadt, 500 vor Christus. Und Heraklit war ein Charakter darin. (Ich sage nichts, aber meine leuchtenden Augen signalisieren ihm meine Spannung.) Wie viele Heraklit-Aussprüche hast du da?
ICH: Vier.
Gärtner: Für jede Seite des Konvikts einen?
ICH: Ja.
GÄRTNER: Bist du von der Pforte aus gestartet?
ICH: Ja, von der Ostseite.
GÄRTNER: Also du gehst deinen Kreis im Uhrzeiger-Sinn ab. Was meinst du: Ob der Sonnenlauf die Richtung des Uhrzeigers bestimmt hat? (lacht; ich stehe da mit offenem Mund!) In gewissem Sinn gehst du die abendländische Philosophie ab: Im Osten Griechenland (vor Sokrates bis Aristoteles); im Süden Italien (Renaissance und Barock); im Westen Frankreich (die Neuzeit, Descartes) und schließlich im Norden die Schweiz und Deutschland (Basel, Freiburg, Heidelberg; die zeitgenössischen Philosophen…) (lacht wieder, eher verlegen) Vielleicht ist das alles ein bisschen weit hergeholt! Gerade Frankreich muss heute ja auch wieder genannt werden.
ICH (nach kurzer Pause): Ein Kreis stellt etwas Abgeschlossenes dar. Ich bin zwar keinen Kreis um das Konvikt gelaufen, sondern ein Rechteck, aber egal: Anscheinend sind wir immer auf der Suche nach „Abgeschlossenem“…
GÄRTNER: …auf das wir dann stolz zurückblicken können. Das Fragmentarische hat wohl etwas Bedauerliches, Verdrießliches an sich, mag es im Einzelfall auch großartig sein. Trotzdem ist das Fragmentarische vielleicht unser Lebensgesetz – verbunden mit der unlösbaren Aufgabe, es zu überwinden.
ICH: „Lösungsmöglichkeiten“ gibt es überall: Religion, Philosophie, bis hin zum Alltag, der bewältigt werden will im Kampf mit dem Kleinen und Kleinsten. Und es ist ja auch notwendig, dauernd „Abschlüsse“ zu erzielen.
GÄRTNER (lacht): Wollen wir beide einen vorläufigen Abschluss mit deinen Heraklit-Fragmenten erzielen? Wir könnten uns demnächst treffen, vielleicht wieder abends, und deinen Gang ums Konvikt noch einmal antreten.
ICH: Gerne! Ja, bestimmt…
GÄRTNER: Also bis bald! Du wirst ja jetzt wohl noch zur Nordseite gehen. (ab)
Wie viel Gedanken mir im Kopf herumgeschwirrt sind beim Gespräch mit Ludwig Gärtner! Ahnungen, plötzliche Einfälle wie Blitze – und nur ein Bruchteil wird zu Ende gedacht und formuliert!
IV
Hier an der Nordseite stehe ich „im Getümmel“. Die Spieler auf dem Platz prüfen noch immer die Schlagkraft ihrer Arme und Fäuste; ich weiche zum Konviktsgebäude aus, fast schon wieder zum kleinen Bergweg auf der Ostseite und verschaffe mir damit eine kleine Art von Unbeachtetheit. Aber ich will nicht falsch verstanden werden! Es geht mir nicht um elitäre Absonderung; ich schau sonst gern den Faustballspielern zu. Mein eigener Sport ist das Laufen; hier um den Sportplatz oder raus in die Stadt und auf den Feldweg. Wenn der Kopf wirr ist von vielen Gedanken und Empfindungen, hilft der Feldweg.
Das Transparent kann (könnte) ich hier nirgendwo in halbwegs weicher Erde befestigen. Ich muss (müsste) es ans Konvikt anlehnen. Aber bevor ich es lese (lesen würde), stelle ich mir vor, nicht mehr allein zu sein. Ich stelle mir vor, dass einige interessierte Kameraden bei mir sind und wir zusammen über die Aussprüche der Philosophen diskutieren. (Der Anfang ist unversehens gemacht mit Ludwig Gärtner, vielleicht auch dem Prä!) Wir werden richtige Transparente dabei haben und vor ihnen stehen und hin- und herlaufen und reden. Vielleicht spricht es sich herum. Vielleicht werden auch B.er Bürger den Weg zu uns finden und sich beteiligen am Gedankenaustausch…
„Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Grund hat sie.“
Wenn die Grenzen der Seele nicht „ausfindbar“ sind, spielt es dann eine Rolle, ob es die Grenzen überhaupt gibt? Gesetzt den Fall, es gibt sie, welche Bedeutung haben sie? Würde jenseits der Grenze – pardon, der Grenzen! – die Seele „aufhören“ zu existieren, mithin empfindungslos sein? Zu schwere Fragen! In der Autobiografie eines Schriftstellers las ich unlängst, er habe als Kind beim Zubettgehen schon Ungeduld nach dem nächsten Morgen verspürt, an dem er aus dem Bett springen und den neuen Tag erobern könnte. Kann ich mir so die Wirkungsweise einer unbegrenzten Seele vorstellen? Sind tausend Möglichkeiten in ihr verborgen, das Leben immer wieder neu zu beginnen? Und gibt es vielleicht in der de facto-Grenzenlosigkeit der Seele trotzdem einen „Halt“, der mich rettet vor der Bodenlosigkeit in mir selbst? Ich will mich selbst kennen als jemand, der nicht träge wird, sondern gespannt bleibt auf neue Aufgaben wie jener Schriftsteller als Kind! Ich will es auch aushalten, wenn die Aufgaben zur Routine geworden sind und plötzlich doch zu Grenzen und Mauern der Seele zu werden drohen…
Alle vier Wege um das Konvikt bin ich gegangen; um die Ecke kann ich zur Hauptpforte sehen. Gibt es ein erstes Fazit für mich? Vielleicht nur dieses, dass ich mir weiter Aufgaben stellen will – zu einem festlichen Alltag!