Bernhard Ruppert
Johannes Chwalek
Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes
Rundgänge mit Heraklit, Letzter Teil
Epilog
Siebenunddreißig Jahre sind vergangen, seit ich philosophierend das Konvikt umrundete. Der Prä ist seit sechsundzwanzig Jahren tot. Er war mir immer wohl gesonnen, alles was ich seither unternahm, habe ich ihm innerlich zur Prüfung vorgelegt, mich leider auch für manches Versagen vor ihm geschämt.
Ludwig Gärtner hat Philosophie studiert und später seinem Namen alle Ehre gemacht – er ist Gärtner geworden. Ein „denkender Gärtner“, wie sich versteht, der beinahe täglich in streng abgegrenzter Zeit karierte DINA5-Blätter handschriftlich mit seinen Ideen füllt. Diese Blätter heftet er zu den immer umfangreicher werdenden Konvoluten seines Gedankenreichs.[1]
Im Denken geschieht etwas nur dann, wenn wir denken. Denken verstehe ich als Reaktion auf das Rätsel der Existenz – meiner eigenen, der Mitwelt, überhaupt allen Seins. Das Rätsel entsteht letztlich durch die Unkenntnis über uns selbst, dass wir uns lenken können in klarer Absicht, festem Wollen, und uns gleichzeitig als zeitlebens abhängig und bedürftig empfinden.
– Die „klare Absicht“, „das feste Wollen“ erscheinen mir mittlerweile als Ideen meiner schwärmerischen Jugendzeit im Konvikt, genährt von viel freier Zeit und fehlenden Verpflichtungen. Immerhin habe ich im Konvikt Anregungen erhalten, die mich Schillers Mahnung verstehen lassen, für die Träume der Jugend Achtung zu tragen im Mannesalter.
Die Anregungen konnte ich nicht fortentwickeln zu irgendetwas Respektablem in der Geisteswelt; aber noch immer fühle ich mich erwärmt und zuweilen regelrecht befeuert durch die damaligen Gedanken. Nehmen wir das Gemeinsame des Heraklit! In der spätkapitalistischen Welt scheint es nur ein Gemeinsames zu geben, das Geld, von dem immer weniger Menschen zu viel, und immer mehr Menschen zu wenig haben. Nach dem Ende des Systemvergleichs im Ost-West-Konflikt kollabiert auch der Kapitalismus an der Verabsolutierung einer Idee, besser gesagt eines Hirngespinstes, dass der Sinn des Lebens in der Gier nach Geld zu finden wäre. Je greifbarer und zerstörerischer diese Gier wirkt, umso mehr macht sich Unbehagen breit, die in Sehnsucht nach einer besseren Welt umschlägt, zu ersten Aktionen führt und der Wall-Street den Kampf ansagt. Aus der Geschichte könne das eine gelernt werden, nämlich dass sie nicht aufhöre, sagte der alte Ernst Bloch in Tübingen. Noch immer sind politische Reiche und gesellschaftliche Systeme, die eine Zeitlang unangreifbar zu sein schienen, morsch geworden und zerbrochen. Zu echten Reformen – beispielsweise der staatlichen Kontrolle der Banken – sind die kapitalistischen Länder des Westens nicht bereit. Aber wer auf das Leben nicht reagiert und zu spät kommt, wird seine Lektionen erhalten.
Der so genannte Neoliberalismus ist in Wahrheit ein neolithischer Kapitalismus – der sich selbst vernichten wird. Die inhärente Struktur der „Vernichtung“ offenbart sich als „Burnout“, „Ausbeutung der Ressourcen“ oder „Umweltzerstörung“. Wir brauchen nur die Achterbahn-Fahrten der Börsen studieren: Ein Munkeln und ein Raunen (etwa Frankreichs Zurückstufung) genügen, um Panik „an den Märkten“ auszulösen… – Die Staaten sind pleite, und die Banken diktieren die Bedingungen, unter denen sie bereit sind, den jeweiligen „Patienten“ zu „retten“. Die Banken geben der Politik die Gestaltungsspielräume vor – nicht umgekehrt die Politik die „Rahmenbedingungen“ fürs Wirtschaften, wie man uns immer noch glauben machen will.
Eine Gefahr historischen Ausmaßes sehe ich darin, dass nach dem Zusammenbruch der heutigen Wirtschafts-Systeme keinerlei Ressourcen mehr vorhanden sein werden für irgendeinen „Neuanfang“, Wiederaufbau oder gar ein Wirtschaftswunder. Was nach dem „day after“ bleiben wird, ist das „Skelett“ dieser Struktur, etwa eine Oligarchie von Reichen, die zwar noch Geld haben werden, damit aber nichts mehr kaufen oder irgendetwas verkaufen können. Denn ohne Ressourcen keine materielle Produktion; ohne Produktion, kein Markt; ohne Markt keine Geld-Wirtschaft mehr. Vielleicht werden wir dann gezwungen sein, den alten Waren-Tausch, den Tausch-Handel wieder aufzunehmen… Es ist also wirklich nicht die Frage, ob dieses Vernichtungs-System zusammenbrechen wird, sondern lediglich: Welche unabdingbar notwendige Ressource zuerst aufgebraucht sein wird? Das Erdöl? Das Trinkwasser? Die Luft zum Atmen? Die Fruchtbarkeit der Böden? Eins von diesen…
Wir stellen folglich die falschen Fragen, während die Raserei, der Wahn-Sinn uns immer schneller über den Rand des Abgrundes hinausdrängen…
[1] Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Öffentlichkeit die Ergebnisse jahrzehntelangen Nachdenkens Ludwig Gärtners wenigstens teilweise erfahren wird. Wann dies sein wird, vermag ich allerdings nicht zu sagen.