Die Reise nach Mainz – 3. Teil
Der Umzug nach Mainz war mein erstes größeres Abenteuer. Vielleicht hatte Rosa meine Unsicherheit bemerkt, an dem Tag, als sie die Weintrauben mitbrachte. Obwohl sie es bestimmt gut meinte, das jedenfalls unterstelle ich ihr bis heute, warf mich ihre Einladung, der hässliche Fleck auf meinem Pullover, auf beschämende Weise auf das zurück, für was ich mich zu diesem Zeitpunkt hielt: ein schüchterner Junge, der von der Welt nichts kannte.
Wenige Tage nach der Sache mit den Weintrauben, sprach mich Rosa erneut an. Ob ich Lust hätte mit ihr ein Wochenende in der Jugendherberge in Bingen zu verbringen, fragte sie mich im Anschluss an ein gemeinsames Seminar.
Natürlich hatte ich Lust.
Von einem hübschen Mädchen wie Rosa zu einem gemeinsamen Wochenende eingeladen zu werden, ehrte mich, obwohl sie keinen Zweifel daran ließ, dass uns wenig Zeit für Privates blieb, würden wir doch mit anderen Studierenden basisdemokratische Prinzipien der studentischen Hochschulpolitik diskutieren.
Freitags holte mich Rosa am Inter I ab. Sie hatte zwei Fahrräder dabei, sie sagte: „Du kannst doch Fahrrad fahren.“
„Natürlich“, entgegnete ich. „Wo ich herkomme, fährt man viel mit dem Rad.“
„Prima“, bemerkte sie lächelnd.
Die Blätter der Bäume entlang des Rheins leuchteten safrangolden, zinnoberrot und jadegrün, als wir von Mainz nach Bingen radelten und hier dann die Serpentinen hinauf zur Jugendherberge. Ich merkte bald den Unterschied zwischen radeln im Flachen und hügelaufwärts.
Rosa trat leicht in die Pedale, hob mal ihre Hand zur Rechten, dann wieder zu Linken, um meine Aufmerksamkeit auf das Wasser, einen besonderen Baum oder Vogel oder eine Ortschaft zu lenken. Dazwischen erfuhr ich, dass es ihr Ziel war, Seminare und Vorlesungen mit mehr Sinn zu erfüllen, die Beteiligungsmöglichkeiten der Studierenden zu verbessern und ihr Bewusstsein für die wahren Dinge des Lebens zu schärfen. Ich fragte nicht, was in ihren Augen die wahren Dinge des Lebens waren, ehrlich gesagt, hatte ich mit dem Schauen und Lenken und in die Pedale treten, genug zu tun. Außerdem wollte ich die gerade knospende Freundschaft nicht durch eine unbedachte Äußerung zerstören.
In Bingerbrück zeigte mir Rosa die Stelle, an der die Nahe und der Rhein zusammenfließen. Sie sagte, sie sei an der Nahe aufgewachsen und hätte sich nur einen Studienort vorstellen können, der an einem Fluss liege. Ob mein Heimatort auch an einem Fluss liege, wollte sie wissen.
„Nein“, erklärte ich. „Es ist ein trostloses Kaff.“
Wie sie zu Jura gekommen sei, warum sie nicht Winzerin werden wollte, wie es in ihrer Familie wohl üblich war, fragte ich, und sie antwortete: „Es wird Zeit, dass mal ein anderes Gespräch ins Haus kommt.“
In der Jugendherberge wurde Rosa von den bereits angereisten Jungs, es waren nur Jungs da, mit Zuneigung geradezu bedrängt. Rosa nahm das gelassen, sie dirigierte alle ein bisschen herum, und schon hatte jeder, einschließlich ich, seine Aufgabe, sie selbst aber machte es sich erst einmal auf der Terrasse bequem.
Es war die Zeit des Federweißen. Zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich die durchschlagende Wirkung dieses jungen Weins zu spüren, weshalb die Diskussionen, die im Verlauf des Freitagabend und des Samstag um mich herum geführt wurden, nicht wirklich an mich herangingen. Ich erinnere mich aber gut daran, dass uns der Wirt am Samstagnachmittag vor die Tür setzen wollte, weil ihm unsere Diskussionen und unsere Trinkerei missfielen, und auch daran, dass Rosa ihm ein wunderbares Lächeln schenkte und ihn einlud, sich mit seiner Meinung an unseren Diskussionen zu beteiligen. „Das wäre eine Bereicherung für uns“, sagte sie sogar.
Der Wirt dachte zunächst, sie mache sich über ihn lustig, aber als sie die Ernsthaftigkeit ihres Angebots unterstrich, ihm sagte, sie wisse doch selbst, dass sie und ihre Kumpels nur Theoretiker seien, er aber ein praktisch denkender Mann, noch dazu einer mit einer großen Verantwortung, und deshalb wichtig für den Verlauf der weiteren Diskussionen, wurde der Herbergsvater verlegen. Er stotterte, diskutieren sei nicht gerade seine Stärke, bekannte er.
Rosa meinte, da stünde er nicht allein. Dabei sah sie mich an, und mir stieg die Hitze in die Ohren.
Ein paar Kinder winkten auf der Theodor-Heuss-Brücke, als die Lorely Star in Mainz anlegte. Unzählige Male hatte ich selbst dort oben gestanden und auf Rosa gewartet. Manchmal, während ich aufs Wasser schaute, war sie neben mich getreten, ohne dass ich es bemerkte. Einmal, da wandte ich mich vom Wasser ab, um auf die Uhr zu schauen, missmutig, weil Rosa mich mal wieder warten ließ, und sie stand ruhig neben mir.
„Es macht mir Spaß, dich zu beobachten, wenn du es nicht merkst“, sagte sie.
Mir sei das eher unangenehm, entgegnete ich. Sie lachte, sie sagte: „Sei nicht albern.“
Vielleicht ließ sie mich deshalb in Zukunft öfter warten, nicht regelmäßig, sondern in verwirrend unregelmäßiger Weise, so dass ich nie wirklich wusste, woran ich mit ihr war.
Nach dem Wochenende in der Jugendherberge sah ich Rosa mindestens zwei Monate nicht mehr. Kurz vor Weihnachten traf ich sie dann in der Buchhandlung auf dem Campus. Wie es ihr ginge, fragte ich, wir hätten uns ja ziemlich lange nicht gesehen.
„Hast du fleißig studiert?“, fragte sie mich spöttisch, und als ich ihr sagte, das sei ich meinen Eltern schuldig, schließlich bezahlten sie mir mein Studium, fuhr sie auf, wichtig sei einzig, was ich wollte, dafür einzutreten, meine Pflicht, egal, was mich das koste. Immerhin verriet sie mir, sie sei ab Januar öfter abends in der Bar im Inter I. zu finden.
Sie bediente dort, und ich verbrachte dort meine Nächte, um auf ein Wort von ihr zu warten. Rosa war der Magnet schlechthin. Es konnte sein, dass sie sich wie ein Junge kleidete, weite, ausgebeulte Hosen und Pullis trug, dann wieder kam sie daher wie eine Femme fatal, sie lachte mit jedem Jungen, egal wie er aussah oder was er zu sagen hatte, und alle Jungs flirteten mit ihr. Nur ich saß da, trank ein Bier nach dem anderen und wartete darauf, dass Rosa mich ansprach.
In dem Sommer, der folgte, sah es so aus, als hätte ich das große Los gezogen. Rosa verabredete sich immer öfter mit mir. Ich war unglaublich stolz.