„Die Natur war aber stärker“ – Auguste L. (1916-2012)


Johannes Chwalek

„Die Natur war aber stärker“ – Auguste L. (1916-2012)

 

„Ich wende mich […] mit der innigsten Bitte an den Herrn Oberstaatsanwalt, doch die menschliche Seite des vorliegenden Falles ins Auge zu fassen und mir und den Kindern zu helfen. Ich werde ewig dankbar sein, wenn mir aus meiner grossen Not eine Unterstützung […] zuteil würde, damit die armen kleinen Kinder nicht verkommen, ich nicht ganz zusammenbreche und auch der Betrieb nicht ruiniert wird. Zum mindesten bitte ich(,) meiner Tochter einen längeren Strafaufschub unverzüglich zu bewilligen.“

 

(Philipp W., der Vater Auguste L.s, in einem Schreiben vom 14.2.1944 an den Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht F.)

 

Vorbemerkung

 

Eine Haftzeitbescheinigung für Auguste L., ausgestellt am 6.3.1950, weist ihre Verfolgung durch das NS-Regime aus „wegen verbotenen Umgangs mit einem Kriegsgefangenen“. Die Stationen ihrer Verhaftung, Verurteilung, Strafunterbrechung und weiteren Strafverbüßung bis zur endgültigen Entlassung Ende März 1945 gliedern die vorliegenden Zeilen.

Der diktatorische Zugriff des NS-Staates auf private Beziehung und Intimität drückte sich in Auguste L.s Fall in einer zweijährigen Zuchthausstrafe aus. Wenn dies allein schon traumatisierend für sie gewesen sein musste, bildete ihre schwierige familiäre Situation mit einem kranken Vater als einziger Arbeitskraft auf einem Bauernhof sowie drei kleinen Kindern, die ohne die Mutter auskommen mussten und nur unzureichende verwandtschaftliche Hilfe erfuhren, eine zusätzliche Erschwernis.

Ein Ringen zeichnete sich ab zwischen dem ideologiegeleiteten NS-Staat, vertreten durch den Oberstaatsanwalt des Sondergerichts in F., dem „Gau H.-N.“ sowie der „Kreisbauernschaft H.-N. Nord-West“ und den offensichtlichen Forderungen von Vernunft und Menschlichkeit, vertreten nicht nur durch den Anwalt Auguste L.s, sondern auch den Bürgermeister B.s, den Ortsbauernführer, das Kreisjugendamt in L. (mit Einschränkung) und sogar den Vorstand des Zuchthauses Z.

In der Akte […] des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden, der sämtliche nachfolgenden Zitate entnommen sind, finden sich außer einem Vernehmungsprotokoll keine Hinweise über das Schicksal ihres Geliebten, des französischen Kriegsgefangenen Louis P.

Wegen der noch bestehenden Sperrfrist nach dem hessischen Landesarchivgesetz verbieten sich Nachforschungen über den Inhalt der Akte hinaus.[1] Personen- und Ortsnamen wurden anonymisiert.

 

Auguste L. und Louis P.

 

Auguste L. wurde am 27. Oktober 1916 in B., Verwaltungsbezirk U., als Tochter des Landwirts Philipp W. und seiner Ehefrau Johanna, geb. B., geboren und starb am 14. März 2012. Am 25. Mai 1935 heiratete sie den Friseur Otto L. und wohnte und arbeitete mit ihm im elterlichen Haus und Betrieb. Zwei Kinder gingen aus der Ehe hervor.[2] Nicht einmal zehn Monate nach seiner Einberufung zum Militär fiel Otto L. am 13. Mai 1940 während des Feldzugs gegen Frankreich.

„Um diese Zeit erhielten B. und die anliegenden Gemeinden französische Kriegsgefangene als Erntehilfsarbeiter zugeteilt“, gab Auguste L. in einer polizeilichen Vernehmung am 28. August 1942 zu Protokoll.[3] „Mein Vater hatte sich auch um einen Gefangenen bemüht und erhielt den französischen Kriegsgefangenen Louis P. zugeteilt […] Tagsüber war derselbe in meinem elterlichen Betrieb tätig, während er des Abends in das Lager B. zurück ging. Derselbe ist Kraftfahrer von Beruf, hat sich aber bei uns in der Landwirtschaft ganz gut eingearbeitet. Er war willig und fleißig.“

Im weiteren Verlauf des Protokolls versuchte Auguste L. die Annäherung an Louis P. zu erklären, was nicht abging ohne einen gewissen Widerspruch, als sie erst von entstehender Sympathie zu Louis P. seitens ihres Vaters und ihrer selbst sprach und im nächsten Satz ihren Vater wieder davon ausnahm:

„Bei Arbeitsverrichtungen im Betrieb,(!) sowie bei der laufenden Feldarbeit,(!) waren mein Vater und ich,(!) sowie der Gefangene immer zusammen. Selten war ich mit dem Gefangenen alleine. Es kam dies nur vor bei Stall(-) und Hausarbeit. Wie sich eben gerade die Gelegenheit geboten hat. Wie bereits schon vorstehend erwähnt, war der Gefangene willig und fleißig und sonst sehr aufmerksam. Dies brachte es mit sich, daß wir ebenfalls etwas freundlicher zu ihm wurden. Mein Vater hielt dem Gefangenen gegenüber sein altes Wesen ein. Der Gefangene muß unsere, bezw. meine Umstellung gemerkt haben, was zur Folge hatte, daß wir uns bei passender Gelegenheit, gleich wo, neckten, herzten und küßten. Unsere Beziehungen wurden dann immer intimere und es kam soweit(!), daß ich mich mit ihm in geschlechtlichen Verkehr einlies(!). Ab September 1941 habe ich dann ab und zu geschlechtlichen Verkehr mit ihm ausgeübt bis zu meinem Weggang in das Krankenhaus in M.“

Die Formulierung „ab und zu“ wurde handschriftlich über dem durchgestrichenen Wort „laufenden“ ergänzt; im übernächsten Satz taucht die Formulierung mit „laufenden“, diesmal unkorrigiert, wieder auf. Der „Weggang in das Krankenhaus in M. […] am 3. oder 4. Juni 1942“ war bedingt durch die Schwangerschaft Auguste L.s:

„Durch den laufenden Geschlechtsverkehr bin ich von dem Gefangenen in einen schwangeren Zustand versetzt worden und habe am 15.7.1942 entbunden. Das Kind befindet sich im Kinderheim B. in M. […].“

Dass sie „Geschenke und sonst(!) ähnliche Sachen […] von dem Gefangenen“ erhalten habe, bestritt Auguste L.

Am Schluss des Protokolls stehen ein – wohl obligatorisches – Reue-Bekenntnis und Erklärungsversuch für ihre vom NS-Regime kriminalisierte Beziehung:

„Daß der Umgang und die Ausübung des Geschlechtsverkehr(!) mit Kriegsgefangenen verboten [ist. Anm. J.Ch.], ist mir bekannt. Ich bin belehrt worden und bereue heute meine verbotswidrige Handlung sehr.

Ich bin noch eine junge Person, hatte auch immer den Vorsatz(,) den Verkehr mit dem Gefangenen einzustellen. Die Natur war aber stärker und ich gab mich in schwachen Stunden dem Gefangenen hin.“[4]

Der Schlussbericht des Protokolls resümiert Auguste L.s „begangenen Fehltritt“ vor dem Hintergrund der NS-Ideologie:

„Wie aus angeschlossener Vernehmung der Beschuldigten Auguste L. hervorgeht, gibt sie den verbotenen Umgang,(!) sowie den fortgesetzten Geschlechtsverkehr mit [dem. Anm. J.Ch.] Kriegsgefangenen zu.“

Auguste L. und Louis P. müssen einer oder – womöglich – mehreren Denunziationen zum Opfer gefallen sein:

„Dem umlaufenden Gerücht, daß sie solchen Verkehr pflegt und mit dem Kriegsgefangenen den Geschlechtsverkehr ausübt, war insofern Bedeutung beizumessen, weil man sie hierfür veranlagt hielt.“

„Veranlagungs-Determinismus“ als Teil des rassistischen NS-Denkens wurde zur hinreichenden „Erklärung“ für Auguste L.s Beziehung zu dem französischen Kriegsgefangenen angeführt. Am sozialen Umfeld Auguste L.s konnte die verfolgende Behörde in K. keinen Makel finden:

„Die Beschuldigte stammt aus einem guten Elternhaus. Eltern,(!) sowie Schwiegereltern sind kleine Landwirte, leben in geordneten Verhältnissen und genießen einen guten Ruf.

Auch der Ruf ihres gefallenen Ehemannes war einwandfrei. Er galt in hiesiger Gegend als ein rechtschaffener, achtbarer junger Mann.“

Schließlich wurde Auguste L. selbst beschrieben, ohne dass sich Nennenswertes gegen sie hätte vorbringen lassen:

„Zur Person der Beschuldigten ist zu sagen, daß sie mit ihren Eltern, Vater, in gutem Einvernehmen lebt.[5] Von ihren Schwiegereltern hielt sie sich allerdings etwas zurückgezogen. Sie gilt sonst als eine fleißige und rührige Person. Ihr bisheriger Ruf war einwandfrei. Bei einem Teil der Ortsbewohner ist sie nicht so ganz beliebt und gelitten, weil sie ein nettes Wesen hat und aufzutreten versteht.“

Über Auguste L.s psychische Verfassung zur Zeit der Abfassung des Protokolls geben folgende beiden Sätze Aufschluss:

„Bei ihrer polizeilichen Vernehmung machte sie einen gedrückten und niedergeschlagenen Eindruck. Ihr ganzes Verhalten zeigte Reue.“

(wird fortgesetzt)

 

[1] Der Verfasser hat einen Antrag auf Fristverkürzung beim Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden gestellt und genehmigt bekommen.

[2] Zur Zeit der Verhaftung Auguste Landersheims waren ihre Kinder aus der Ehe mit Otto L., ein Mädchen und ein Junge, acht und sechs Jahre alt. Ihr drittes Kind aus der Beziehung mit Louis P., ein Mädchen, war sechs Wochen alt.

[3] Der 28.8.1942 ist auch das Datum, an dem der Haftbefehl gegen Auguste L. erlassen wurde.

[4] Mit etwas anderen Worten beschreibt Auguste L. in einem Protokoll des Amtsgerichtes D. […] vom selben Tag, dem 28.8.1942, ihre Affäre mit Louis P.: „Mein Vater(,) bei dem ich wohnte und auch heute noch wohne, bekam im August 1940 den franz. Kriegsgefangenen Louis P. zugeteilt. Er arbeitete nur tagsüber bei uns. Wir waren mit seiner Arbeit recht zufrieden. Er sprach ganz gut deutsch(!). Ich war mit ihm nur selten Allein(!). Infolge seines guten Verhaltens behandelten wir ihn auch freundlich. Im Sommer 1941 etwa machte er Annäherungsversuche. Ich wusste, dass der Umgang mit Kriegsgefangenen verboten ist,(!) und habe mich auch gegen seine Annäherungsversuche zunächst gewehrt. Ich habe ihm auch gesagt, dass der Umgang mit ihm verboten sei. Es ist dann aber doch zu Zärtlichkeiten und Küssen gekommen und im September 1941 habe ich mich ihm dann auch zum ersten Male im Stalle hingegeben. In der Folgezeit haben wir dann noch hin und wieder einmal Geschlechtsverkehr miteinander gehabt, und zwar im Haus, im Stall oder in der Scheuer, wo es sich gerade Gelegenheit dazu bot. Ich hatte immer Gewissensbisse, daher ist es auch verhältnismässig selten zum Beischlaf gekommen. Ich habe mir immer wieder gesagt, dass ich dies nicht tun dürfte, aber schliesslich ist die Natur dann doch stärker gewesen. Im November 1941 merkte ich, dass ich schwanger war. Das Kind kann nur von dem Kriegsgefgangenen stammen, denn mit einem anderen Manne habe ich in der Zeit keinen Geschlechtsverkehr gehabt. Am 3. oder 4. Juni 1942 bin ich nach M. in die Klinik gegangen(,) um dort zu entbinden. Ich habe zu Hause aber vorgeschützt, dass ich wegen einer Beinbeschädigung nach M. ginge. Am 15. Juli 1942 ist das Kind geboren.“

[5] Die Mutter war zur Zeit der Verhaftung und Vernehmung Auguste L.s bereits verstorben.

 

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