Thomas Berger
DIE GROSSE VERWANDLUNG
Vom Sinnbild des Frühlings
̶ Auszug ̶
Wir erleben nun die Jahreszeit, in der uns mehr Licht geschenkt wird, Blumen wachsen und sich öffnen, Bäume neue Triebe hervorbringen und Vögel wieder zwitschern. Aus ihrem Schlaf erwachet von neuem die Natur, lautet treffend der Beginn eines 1801 gedichteten Frühlingsliedes. Und der Schriftsteller Peter Härtling (1933-2017) erfand den schönen Vers: Schon im März kannst du die Apfelbäume zwischen Dorf und Berg singen hören: leise und trunken von Erwartung.
Von einem derartigen Wandel sind auch wir betroffen. Wir verändern uns: Vitalität und Lebensfreude nehmen zu, Farben und Düfte heben unsere Stimmung, ein Gefühl von Aufbruch erfüllt uns ̶ die Seele erblüht gleichsam. Unübersehbar ist die Zahl der Gedichte, die den Lenz und seine Wirkung bejubeln. Vor allem das neunzehnte Jahrhundert erwies sich auf diesem Feld als äußerst produktiv. Das folgende Gedicht stammt von Ludwig Uhland (1787-1862); er verfasste es 1811.
LOB DES FRÜHLINGS
Saatengrün, Veilchenduft,
Lerchenwirbel, Amselschlag,
Sonnenregen, linde Luft!
Wenn ich solche Worte singe,
Braucht es dann noch große Dinge,
Dich zu preisen, Frühlingstag?
Medizinisch betrachtet sind die sogenannten Frühlingsgefühle ein Resultat der Kombination von Hormonausschüttung, optischen Reizen und Gerüchen ̶ all dies bietet ja der Lenz. Denken wir etwa an Dopamin, das als Botenstoff des Glücks bekannte Hormon, das unser Körper in der Helligkeit und Wärme des Frühjahrs vermehrt bildet; an die farblichen Eindrücke, die uns sowohl die Pflanzenwelt als auch die Frühlingskleidung der Menschen vermitteln; schließlich an natürliche oder industriell hergestellte Duftstoffe, die im Lenz verstärkt wahrzunehmen sind.
Doch nun tut sich eine interessante Frage auf: Verbirgt sich vielleicht noch etwas anderes hinter der Steigerung unseres Antriebs und Wohlbefindens im Frühling? Warum sind wir letzten Endes so empfänglich für den Übergang von Dunkelheit zu Helle, von Altem zu Neuem? Verheißt das Ende des Winters und das sehnlich erwartete Aufblühen in der Natur Größeres als die bloße Aktivierung positiver Stimmung durch den jahreszeitlichen Wechsel?
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