Die große Enttäuschung
Im Winter, als es so sehr dunkel war und der Corona-Lockdown sich schier endlos hinziehen wollte, da freute ich mich auf den Frühling. Ich war mir sicher, dass dann alles überstanden sein würde: die ersten Autorenlesungen im Freien, ein kleines Geburtstagsfest im Park mit Maske und ohne Umtrunk, eine Urlaubsplanung für den Frühsommer, in Deutschland wohlgemerkt. All das würde dann möglich sein. So wie es auch 2020 war. Und im Herbst hätte man es dann ganz geschafft: Alle sind geimpft und glücklich.
Doch jetzt ist es anders gekommen. Statt zarter junger Freiheit wie in meiner Jugend Maienblüte gibt es weiter Reise- und Veranstaltungsverbote, eine Ausgangssperre und fehlende Sportmöglichkeiten. Wieder bin ich zurückgeworfen auf die acht Wände meines Zuhauses. Der Tag will sich nicht mehr strukturieren lassen. Meine Konzentration sinkt, weil die Abwechslung noch mehr abnimmt. So viel hatte ich auf diesen Frühling gesetzt, und nichts davon ist wahrgeworden. Ich gehe gern mit meinem Mann ins Fitnessstudio. Das ist ein wichtiger Ausgleich für uns, weil wir im häuslichen Alltag wenig Bewegung haben. Für unsere Gesundheit ist sportive Betätigung unerlässlich. Ab heute ist Schluss damit.
Ich dachte, als das erste Laub trieb und die Bäume in unseren Straßen zu blühen begannen, jetzt kommt der Frühling, draußen wird es heller und wärmer, und jetzt haben wir Corona besiegt. Im Schwung dieser Stimmung wollte die Regierung im März lockern, aber dann zeigte sich, dass das verkehrt war, weil die Zahlen stiegen und weil sich neue Virusmutationen ausbreiteten – und die Zügel wurden wieder straffer gezogen. Die Bevölkerung ist müde und aggressiv, sie will nicht mehr. Zu Fasching hatte man uns vorgeschwärmt, wie schön die Ostertage werden würden, um uns über die nicht stattgefundenen Karnevalsaktivitäten hinwegzutrösten. Dann rückte Ostern näher, aber eine Verringerung der Fallzahlen war nicht in Sicht. Ein beinahe verhängter Osterlockdown Anfang April scheiterte. Aber auch die erhofften Öffnungen erfolgten nicht. So dümpelten wir halbherzig weiter mit zu wenig Homeoffice, aber mit verzweifelten Schulkindern, die sich zu Hause abquälten. Wir leben in einer Gesellschaft, die die Bedürfnisse der Jüngsten nicht achtet. Finanzhilfen gibt es zwar für die Familien, aber keine sozialen Anregungen und wenig psychologische Unterstützung.
Meine Tochter trifft der ganze Lockdown noch härter als mich, weil ich nicht jeden Tag auf Achse sein muss, um zufrieden zu sein. Sie ist 18 geworden und wollte es krachen lassen. Ihr Geburtstag fiel terminlich in den Windschatten der Verhandlungen über die „Corona-Notbremse“ mit der Ausgangssperre. Inzwischen sind die Entscheidungen gefallen, aber in der Woche Mitte April war alles im Schwebezustand. So feierte sie dann doch in diesen besonderen Ehrentag hinein, Verbote hin oder her. Für die Jugend ist es wichtig, sich in Gruppen zu treffen. Genau das ist verboten. Konnten die Kinder bis vor kurzem noch fliehen, wenn die Polizei sie in einem Park aufstöberte, heißt es jetzt definitiv: Ab 22 Uhr zu Hause sein.
Ich bin Anfang Juni auf ein Literaturfestival eingeladen und möchte Mitte Juni mit meinem Mann innerhalb Deutschlands verreisen. Den ganzen Winter lang habe ich mich auf beides gefreut. Der Gedanke an das Frühjahr, den Sommer, hat mich aufrechtgehalten, die dunkle Jahreszeit ohne zu schwere Depressionen zu überstehen. Und jetzt bin ich mehr als enttäuscht. Zwar kann ich die üppige Baumblüte auf dem Balkon genießen, zwar kann ich nach wie vor Leckeres einkaufen – im Kochen habe ich mich während des Lockdowns echt gesteigert – , aber ich kann mich nicht mit mehreren Freundinnen und Kolleginnen treffen, und weiß gar nicht mehr, wie es ist, vor Publikum zu lesen, gegen das Lampenfieber anzukämpfen. In der Teamkonferenz bewege ich mich doch fast wie eine Privatperson. Es soll schon vorgekommen sein, dass ich mich an der Schläfe gekratzt oder mir in der Nase gebohrt habe. Und ich bin nicht irgendwo in einem aufregenden Ambiente, sondern zu Hause in der Küche meines Mannes, wo die geliebt-vertrauten Gegenstände herumstehen, die den Kern meiner Heimat ausmachen. Hier „baue ich mich“ immer „auf“, so wie ich das nenne, wenn ich meinen Laptop für die Dauer der Konferenz an dem kleinen Küchentisch aufstelle. In dieser Küche kann ich allein sein und mich in aller Zurückgezogenheit auf die Konferenz oder die Online-Lesung konzentrieren. Aber eine wirkliche Begegnung ersetzt sie nicht, sie tröstet über keinen echten Kontakt hinweg.
Im Fernsehen zeigen sie eindringliche Bilder von Intensivstationen und Patienten, die beatmet werden. In meinem Frust will es mir vorkommen, als seien die Bilder dafür da, dass wir bei der Stange bleiben. Sie wirken auf mich wie Durchhalteparolen, damit wir Lockdown und Notbremse noch weiter ertragen. Jetzt rede ich schon wie eine „Querdenkerin“, obwohl ich nie eine war. Ein Stoßseufzer jetzt, dann werde ich das Notwendige wieder akzeptieren.
Der Ostersonntagabend, an dem mein Mann seine erste Impfung bekam, war wie ein Befreiungsschlag für mich. Es war ein intensives Erlebnis, ihn in das weitläufige Impfzentrum zu begleiten. Ich durfte mit in die Kabine und zusehen, wie die Spritze in seinen Oberarm eindrang. Und wenn nun einer nach dem anderen geimpft wird, erst einmal und dann auch zweimal, dann gibt das Kraft, aber auch die Lust, mehr zu machen und sich mehr nach draußen zu bewegen. Da mag man die Notbremse gar nicht mehr leiden.
Gerne möchte ich eine neue Geschichte schreiben. Ich habe auch schon eine Idee. Aber als Hausfrau und Mutter bin ich in verschiedene Pflichten eingebunden. Ich will meiner Tochter nicht nur eine liebevolle Gesellschaft sein, sie braucht auch Platz in der Wohnung. Das Wohn- und mein Arbeitszimmer sind miteinander verbunden. Sitzt mein Kind im Wohnzimmer am Tisch und arbeitet für die Schule, dann lasse ich sie arbeiten, auch wenn das zu Lasten meiner Konzentration geht. Zum Schreiben muss ich allein sein. Aber ja, da gibt es ein Stockwerk tiefer die Küche meines Mannes, wo ich „mich aufbauen“ kann, denn mein Laptop, das bin auch ich, das ist wie mein PC eine Erweiterung meiner Person. Aber am liebsten sitze ich oben am Computer und schau durchs Fenster in die grünenden Bäume. Um in meine neue Geschichte hineinzufinden, würde ich gern eine Schreibreise machen, ans Meer oder wenigstens aufs Land. Aber genau das ist zurzeit nicht möglich, weil die hohen Inzidenzen in meiner Stadt keine Reisen gestatten. Nun spekuliere ich auf die Zeit Ende Mai, Anfang Juni. Wird da alles besser sein?
Zurzeit lese ich ein Buch über Frauen im 19. Jahrhundert. Politik wurde von Männern gemacht. Berufliche Arbeit wurde in den 1860ern allmählich für Frauen möglich, die nicht durch einen Ehemann versorgt waren. Die gesellschaftlichen Normen und die Sitten waren streng. Der Platz der Frau war im Haus ihres Mannes oder, wenn sie keinen Mann hatte, dann im Haus ihrer Eltern oder naher Anverwandter. Allein auf Achse gehen und Leute treffen, schickte sich nicht. Sich mit Männern zu verabreden, war völlig unmöglich. Der Alltag verlief nach strikten Regeln, nach denen sich Mahlzeiten, Handarbeiten und kleinere gesellschaftliche Ereignisse aneinanderreihten. Das scheint mir ein Leben wie in einem Dauer-Lockdown gewesen zu sein, so fühlt sich das an, so kommt es mir vor. Da gibt es ja selbst in meiner bescheidenen Haushaltung während der „Corona-Notbremse“ noch weiterreichende Freiheiten.
Frankfurt, 24. April 2021