Die Biertischgarnitur Zweiter Teil


Die Biertischgarnitur

Eine Erbengeschichte

Zweiter Teil

 

Mit Laura erstieg ich fünf ummauerte Stufen zur Haustür. In meiner frühesten Kindheit war der Eingangsbereich von der Straßenseite verlegt worden auf die Nebenseite. Die Umbaumaßnahme war auf Betreiben der Stiefmutter vorgenommen worden, die nicht gewollt hatte, dass ihr „alle Welt ins Haus sehen“ konnte. Die Welt schüchterte die Stiefmutter ein. Im Haus war sie eine ganz andere Person als außerhalb. Sofort als ich das Haus betreten hatte und mich im Eingangsbereich mit dem Garderobenständer befand, musste ich daran denken … Sie hatte mich geschlagen, exzessiv, ich war sieben oder acht Jahre alt. Aber damit war es noch nicht zu Ende. Ich musste vor ihr stehen und ihre Schimpfkanonade über mich ergehen lassen: Dass ich die letzte Drecksau wäre, nicht das Schwarze unterm Fingernagel wert – dabei hielt sie mir ihren an den Zeigefinger gepressten rechten Daumen mitten ins Gesicht und strich mit ihrem linken Daumen am Nagel des rechten herum, und ich durfte nicht zurückweichen – dass sie mir alle Knochen brechen würde, dass ich eine Drecksau wäre, eine Drecksau, eine DRECKSAU, und dass ich abhauen solle, sie wolle mich nicht mehr sehen, los, hau ab, du Drecksau! DU SOLLST ABHAUEN! – Ich zögerte; meinte sie es ernst? Sollte ich das Haus verlassen? – ABHAUEN SOLLST DU! DU SOLLST ABHAUEN! – Schluchzend, zögernd und zitternd führte ich meine Hand in Richtung Haustürklinke, als mich ihr Schlag traf. Ich schrie auf und war bis zu einem Punkt vernichtet, der die Sadistin fürs erste befriedigte. Sie ließ von mir ab und befahl mir nur noch, dass ich „augenblicklich“ aufhören sollte zu weinen, zu zittern, zu hyperventilieren. SEI STILL! DU SOLLST STILL SEIN! Gewaltsam brachte ich mich zur Ruhe, aber ganz funktionierte es nicht. Ich versuchte es weiter, ruhig, ruhig, ruhig zu sein, mein Zittern zu unterdrücken, mein fuchtelndes Hin- und Heratmen. „Mucksmäuschenstill“ sollte ich sein.

Drei oder vier Empfindungen jagten durch mich hindurch, während die Stiefmutter mich beobachtete, dass ich auch tatsächlich so rasch wie möglich „mucksmäuschenstill“ wurde und in den Alltag abziehen konnte, in dem sich ihr Hass- und Gewaltausbruch für die Außenwelt in Luft auflöste. Ich hätte erleichtert sein können angesichts dessen, was gerade hinter mir lag, aber ich empfand deutlich, dass ich kaum noch ein Vermögen dazu besaß. Ich spürte, dass es Unrecht war, was mit mir geschah – schon während der Prügel und als sie mich als Drecksau angeschrien hatte; immer wieder mich als Drecksau tituliert hatte mit wachsender und zuletzt sich überschlagender Stimme, hatte sich dieser Gedanke gemeldet. Aber er löste keinerlei Empörung in mir aus, weil er vollständig überlagert war vom Gefühl meiner Machtlosigkeit. Der Stiefmutter war ich ausgeliefert, Tag für Tag; der Vater half mir nicht, sondern sah mich nur müde an; die Geschwister waren älter und kamen wie der Vater oft erst spät nach Hause. Meine jüngeren Halbgeschwister kamen für Hilfe nicht in Frage. Sie registrierten nur, dass ich geschlagen wurde, sie aber nicht. Und meine Halbschwester erpresste mich mit der Stiefmutter, ihrer Mutter. Beim Spielen musste alles nach ihrem Willen geschehen. „Ich sage es der Mutti“, reichte als Drohung gegen mich völlig aus. Schließlich sah sie mich nur bedeutungsvoll an, und ich gab ihr, wonach sie verlangte, ein Spielzeug oder dass sie beginnen konnte beim Spielen.

Damals hatte ich versucht, den Großeltern, den Eltern meiner verstorbenen Mutter, die in der Altstadt wohnten, zu sagen, was mich bedrückte. „Die schimpft immer so viel!“ – mehr brachte ich nicht heraus. Die Szene im Eingangsbereich meines sogenannten Elternhauses – Anlass für meinen Satz „Die schimpft immer so viel!“ – konnte ich nicht schildern. Welche Wörter waren dafür geeignet? Der Großvater saß in der guten Stube, deutete mit der Hand von seinem rechten Ohr zum linken und sagte: „Da rein, da raus! Lass sie nur reden!“ Die Großmutter, bei der ich noch einen Versuch machte, stand in der Küche und sagte: „Einem bösen Hund gibt man einen Knochen mehr.“ Hieß das, ich sollte der Stiefmutter einen Knochen hinlegen, wenn sie die Schrei- und Prügellust gegen mich überkam? Die Großmutter verstand nicht, dass ich der Stiefmutter dauernd „Knochen“ hinlegte und sie dies als selbstverständlich erachtete. Aber es änderte nichts an meiner Situation.

War ich nicht selbst schuld am Missverständnis, weil ich mich vor anderen nicht adäquat verbalisieren konnte? Nur einen Bruchteil meiner Leiden brachte ich in Worte – „Die schimpft immer so viel!“ – was beim Großvater den Eindruck erweckte, als sei dies ein zwar lästiger, aber aushaltbarer Zustand, und bei der Großmutter den Eindruck erweckte, als müsse ich mich nur devot zeigen, um die Dinge wieder halbwegs in Ordnung zu bringen. Später brachte ich es so weit, wenigstens etwas von dem zu benennen, was mir in meinem sogenannten Elternhaus seitens der Stiefmutter passierte. Ich berichtete meinem Vater von den Drohungen, Beschimpfungen und den Spuckattacken seiner Frau gegen mich. (Von der Prügel erzählte ich nichts. Schämte ich mich dafür?) Aber mein Vater winkte ab. „Macht doch nichts! Ist doch alles nichts! Komm, bekack dich!“ (Er sagte tatsächlich „Komm, bekack dich!“) Bei anderer Gelegenheit, als ich wieder Klage führte gegen seine Ehefrau und Einzelheiten ihrer Aggressionen gegen mich benannte, meinte er: „Ach, das ist doch alles nicht so gemeint! Das ist doch nur Spaß!“ (Er sagte tatsächlich „Das ist doch nur Spaß!“) Ich spürte, dass ich nicht bei ihm durchdringen konnte mit meiner Not und meinen Klagen. Warum war das so?

Durch kam ich bei niemand. Die älteren Geschwister, die selbst zu leiden hatten unter der Stiefmutter und alle so rasch wie möglich das sogenannte Elternhaus verließen – wobei ich als Elfjähriger, als ich ins Internat verfrachtet wurde, den Vogel abschoss –  kannten natürlich meine Situation, von der nicht schwer auszurechnen war, dass sie noch prekärer war, als die ihre, weil ich der Stiefmutter tagsüber allein ausgeliefert war. Die älteren Geschwister wohnten entweder, wie erwähnt, schon außerhalb oder waren ausbildungsmäßig den ganzen Tag weg. Aber es gab keine Solidarität unter uns Geschwistern angesichts der dauernden Anwürfe und Angriffe seitens der Stiefmutter. Jeder suchte so glimpflich wie möglich davonzukommen. Es gab seitens der älteren Geschwister auch keinen Aufstand, keine Revolte. Der Vater hielt auch dauernd dagegen, falls die älteren Geschwister – von mir war im Zusammenhang mit einem möglichen Aufstand oder einer Revolte nicht im Entferntesten die Rede – sich dazu entschlossen hätten, etwas zu unternehmen. Immer wieder sprach er von der „besonderen Situation“ oder der „schwierigen Situation“, in der er als Witwer mit fünf Kindern, darunter einem Säugling, nämlich mich, gestanden habe und in gewisser Weise immer noch stehe. Wir sollten „Rücksicht nehmen“, „die Mutti“ habe doch „so viel Arbeit“. Wir sollten „hören“, uns „nicht aufspielen“, wir sollten an die jüngeren Halbgeschwister Ulrike und Karl denken usw. Mit einem Wort: Nichts war ihm wichtiger als der Schein bürgerlicher Ordnung, dass er sich vor seiner sozialen Umwelt aus Eltern, Brüdern, Nachbarn, Gemeindemitgliedern oder Arbeitskollegen als respektabel präsentieren konnte. Dafür ertrug er die wiederkehrenden Hass- und Gewaltausbrüche seiner Frau gegen seine Kinder aus seiner ersten Ehe. Dafür ertrug er die fast permanent schlechte, gereizte oder explosive Stimmung in seinem Haus. Nachgeben und allenfalls die bescheidensten Einwände gegen das Gebaren seiner Frau waren die Mittel, derer er sich bediente in der Misere seiner Familie.

(Fortsetzung folgt)