Die Biertischgarnitur
Eine Erbengeschichte
Vierter Teil
Von der Küche wendete ich mich mit Laura auf dem Flur Richtung Wohnzimmer. Mein Blick fiel auf das hölzerne Wandschränkchen mit dem Telefon darauf, fiel auf die vielen gerahmten Fotos der Enkel des Verstorbenen, fiel auf die ersten Stufen der Holztreppe zum ersten Obergeschoss. So klein, abgenutzt und mickrig kam mir das Wandschränkchen mit dem Telefon darauf jetzt vor. Das war früher nicht so gewesen. Das Telefon war ein Gerät für den Vater und die Stiefmutter. Allenfalls dass ich den Hörer mit den Jahren von der Gabel abnehmen und den Auftrag des Anrufers oder der Anruferin erfüllte, den Vater oder die Stiefmutter zu benachrichtigen. Deren Sprache war am Telefon eine ganz andere, als sie sie sonst im Haus pflegten, wenn kein Besuch sich aufhielt und nur die Kinder da waren. Besonders auffällig war es bei der Stiefmutter. Sie lachte oft am Telefon. Sonst lachte sie fast nie. Sie sprach, als ob alles nicht schwierig sei, sondern leicht. Nur den Gestus der eigenen Überlegenheit und höheren Einsicht im Gegensatz zu andren, die dieser Eigenschaften ermangelten, behielt sie bei. Aber am Telefon versuchte sie diese Haltung zu garnieren mit guter Laune und kameradschaftlichem Einverständnis mit dem Anrufer oder der Anruferin. Kaum aber hatte sie den Hörer zurück auf die Gabel gelegt, veränderte sich ihre Stimmung, Ausstrahlung, Mimik und Sprache schlagartig. Sie war wieder die alte – und so nannten wir Geschwister aus der ersten Ehe die Stiefmutter auch untereinander: die Alte.
Bei den vielen gerahmten Enkelfotos, vor allem der Kinder Ulrikes und Karls, wusste ich nicht immer, um wen es sich handelte. Mehr als vier Jahrzehnte hatte ich nicht nur mein sogenanntes Elternhaus nicht mehr betreten, sondern auch den Kontakt zu den Halbgeschwistern Ulrike und Karl sowie zu den älteren Geschwistern Harry – bis zu dessen Tod im Jahr 2005 -, Bert, Udo und Gerlinde beinahe vollständig reduziert. Eine Kluft hatte sich aufgetan. Seit meinem zweiten und endgültigen Rausschmiss aus dem sogenannten Elternhaus im Jahr 1976 – ich stand in meinem letzten Internatsjahr – war ich dem sogenannten Elternhaus bis auf zwei, drei Besuche, um noch Sachen zu holen, ferngeblieben. Zu Familienfeiern im engen Kreis war ich nicht mehr, im weiteren Kreis anfänglich nur noch wenige Male, dann aber auch dort in den letzten drei Jahrzehnten nicht mehr erschienen. Wie hätte ich dort auch auftauchen können mit meinen Erinnerungen, die ich nicht besprechen konnte mit irgendeinem Familienmitglied des engen oder weiteren Kreises? Im engen Kreis war das Thema, das ich hätte besprechen wollen, nämlich das Verhalten der Stiefmutter mir gegenüber, aber auch gegenüber den älteren Geschwistern, tabuisiert. Auch das Verhalten des Vaters hätte ich besprechen wollen, der die Brutalitäten seiner Frau jahrzehntelang deckte, schönredete, wegredete und niemals recht zur Kenntnis nehmen wollte. Und nun sollte ich mit Laura das Wohnzimmer betreten und mich an den Tisch setzen, an dem ich als Kind sonntags zum Essen gesessen hatte, und mit den Halb- und Ganzgeschwistern die Erbangelegenheit besprechen. Dieselben Halb- und Ganzgeschwister, mit denen ich jahrzehntelang in Sprachlosigkeit verharrt hatte. Unbehagen ergriff mich stärker, als es schon während meiner gesamten Anwesenheit an und in meinem sogenannten Elternhaus vorhanden gewesen war. Dieses Unbehagens musste ich Herr werden. Hatte ich nicht einen Plan gefasst? Sollte das Unbehagen nicht selbst zum Gegenstand meiner Untersuchung werden?
Auf diesem Flur und Erdgeschoss bin ich als Sechs-, Sieben-, Acht- oder Neunjähriger – ich kann es nur noch im groben Rahmen zeitlich fassen – hin- und hergelaufen und wollte dies solange tun, bis ich tot umgefallen wäre. Das war meine Absicht: tot umzufallen. Die Stiefmutter saß mit andren – ich weiß nicht mehr, wer es war – im Wohnzimmer und hatte mich mit irgendeiner Kränkung nach draußen geschickt … Mit Laura im Flur stehend, fiel mir ein, dass das Hin- und Herlaufen mit der Absicht, dadurch früher oder später tot umzufallen, bei aller Betrübnis wenigstens einen Protest dargestellt hatte. Warum habe ich nicht viel früher und anhaltender protestiert? Warum haben meine älteren Geschwister nicht protestiert? Welche Macht besaß und besitzt der Terror in meinem sogenannten Elternhaus?
Sekundenlang blickte ich auf die ersten Treppenstufen zum ersten Stock. Dort hatte mich die Stiefmutter hinaufgeprügelt, als sie mich durchs ganze Haus geprügelt hatte. Sofort sah ich wieder weg von den ersten Treppenstufen zum ersten Stock. Mit Laura betrat ich das Wohnzimmer.
Im Wohnzimmer war der Essenstisch gedeckt. Bert stand noch mit umgebundener Schürze in der Küche am Herd. Die Geschwister sowie Katinka erschienen teilweise in Begleitung ihrer Angetrauten oder Lebenspartner sowie ihrer Kinder.
Alle boten sich zur Hilfe an, als es galt, die Speisen von der Küche über den Flur ins Wohnzimmer zu tragen, denn Bert, seit einem Jahr Rentner, verspürte chronische Schmerzen in den Knien, weshalb er für längere Strecken außerhalb des Hauses einen Gehstock benutzte. Natürlich gehörte es sich, das Gemüseragout in der Schüssel und das Dämpffleisch auf der Platte ausgiebig zu loben; schon vom Geruch her; wie sehr erst vom Geschmack! Schon die Vorspeise Salat war mit höflichen Worten bedacht worden, ebenso geschah es der Nachspeise, die aus Eis mit Beeren bestand.
An der Sitzordnung war zu ersehen, welche Rangordnung in der Erbengemeinschaft künftig gelten sollte: Bert hatte sich am rechteckigen Tisch vorne an die kürzere Seite gesetzt, wo früher der Vater gesessen hatte. Ulrike, Tochter der zweiten Frau des Vaters, die zwei Jahre vor ihm verstorben und mit der er fünfzig Jahre lang verheiratet gewesen war, saß neben ihm auf dem früheren Platz ihrer Mutter. Über Eck an einer der längeren Seiten des Tisches hatte sich Udo den Stuhl zurechtgerückt. Er war an Jahren der älteste nach Bert und ebenso wie dieser seit einem halben Jahr Rentner, aber anders als Bert noch gut zu Fuß. Zu seiner Linken hielt Gerlinde das Essensbesteck in Händen – und dann schien es egal zu sein, wer wo saß. An Geschwistern, die zur Erbengemeinschaft gehörten, saßen noch Jeannot, der Jüngste der ersten Frau des Verstorbenen am Tisch. Katinka, die zweiunddreißigjährige Tochter des verstorbenen Harry, war laut Gesetz in die Erbfolge ihres Vaters gerückt. Von den Anwesenden soll hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nur noch Laura genannt werden, die Lebenspartnerin von Jeannot. Sie wird in unserer Geschichte eine Rolle spielen.
An diesem ersten Treffen der Erbengemeinschaft (plus teilweisem Anhang) sollte eine würdevoll-gelöste Stimmung herrschen. Von der Erbangelegenheit selbst war ausdrücklich noch keine Rede, diese sollte erst beim nächsten Treffen zur Sprache kommen. Udo machte nette Witzchen der Art, dass er wegen des guten Essens von Bert seine Gürtelschnalle immer weiter stecken müsse, worauf harmloses Lachen aufflammte.
Die Redeanteile in der Runde waren ungleich verteilt, wie Jeannot als stiller Beobachter rasch feststellte. Udo unterhielt die Gesellschaft ausgiebig mit Bemerkungen wie der oben erwähnten, wobei ihm Bert, Ulrike und Gerlinde mit nicht nachlassender Energie freundlich respondierten. Jeannot dagegen schaute, nachdem auch der Kaffee mit Kuchen eingenommen worden war, seine Lebenspartnerin Laura an, blickte auf seine Armbanduhr und dann wieder auf Laura. Damit standen die ersten fest, die aus der Runde aufbrachen nach Hause.