Die Biertischgarnitur
Eine Erbengeschichte
Erster Teil
Wer erben soll, bringt schon ein Erbe mit. Aber wissen er oder sie das auch?
Meine Lebensgefährtin Laura parkte das Auto am Straßenrand des Nachbarhauses. Es war das Elternhaus meines Kindheitsfreundes B., das dieser zusammen mit seinen beiden älteren Geschwistern vor einiger Zeit geerbt hatte, als seine Mutter, hoch in den Neunzigern, verstorben war. Als Junge – acht oder neun Jahre alt – stand ich eines Abends dort in der Einfahrt und wollte gerade nach nebenan gehen, als mich die Stiefmutter abpasste und zu beschimpfen begann – als Dreckskerl, der nicht das Schwarze unterm Fingernagel wert sei und dem sie noch beibringen würde, was Respekt und Gehorsam sei; windelweich wolle sie mich schlagen, dass mir Hören und … – da tauchten Fußgänger auf, ein Mann und eine Frau. Scheu drehte sich die Stiefmutter nach ihnen um, sah wieder mich an und änderte ihren Tonfall ins ruhig und gütig Ermahnende: „Guck mal, Jeannot, du musst auch hören, wenn ich dir etwas sage, ich meine es ja gut mit dir, und wenn ich sage …“ – da waren die Fußgänger, Mann und Frau, schon wieder außer Hörweite; die Stiefmutter setzte ihre vorige Schimpf- und Droh-Tirade fort; – dass mir Hören und Sehen vergehen würde, wenn sie erst fertig mit mir sei; ich solle bloß nicht glauben, dass ich sie für dumm verkaufen könnte; ich nicht! So ein verlogener und verkommener Dreckskerl, wie ich sei! … Ich öffnete die Wagentür des Beifahrersitzes und wusste, dass auf mich einprasseln würde, was ich in mehr als vier Jahrzehnten der Abwesenheit von meinem sogenannten Elternhaus mehr schlecht als recht unter Verschluss zu halten versucht hatte. Schon hier am Nachbarhaus; schon beim bloßen Blick auf mein sogenanntes Elternhaus und die Einfahrt zur Garage tanzten die Fratzen der Vergangenheit; welche Kapriolen würden sie erst im Innern des Hauses schlagen, das ich zu betreten mich anschickte, in jedem einzelnen Raum, in den Fluren – drei an der Zahl – und auf jeder einzelnen Treppenstufe, von der untersten Stufe im Keller bis zur letzten im zweiten Obergeschoss! Zurückkehren musste ich, um meinen Erbanspruch neben denen meiner Geschwister und meiner Nichte K., die für ihren verstorbenen Vater, meinen ältesten Bruder Harry, in die Erbfolge gerückt war, geltend zu machen. Aber etwas musste geschehen, möglichst rasch, möglichst jetzt, solange ich das Grundstück des vor mir liegenden sogenannten Elternhauses, auf das ich mit Laura zulief, noch nicht unter meinen Füßen hatte. Ein rettender Gedanke musste her! Ein Gedanke, der Abstand schaffte zwischen den Fratzen der Vergangenheit und mir. Ein Gedanke, der die Fratzen der Vergangenheit auf den Seziertisch legte und ihnen alle Kraft raubte, dass sie schlaff vor mir liegen würden. – Und da wusste ich es: Ich würde meine Profession als Germanist in die Waagschale werfen. Wie hatte sich das Gebaren der Stiefmutter und ihres Sekundanten, meines Vaters, sprachlich zu meiner fortwährenden Ungunst realisiert? Dieser mehr als vier Jahrzehnte zurückliegende Prozess war noch nicht zu Ende gekommen. Er würde zu Ende gekommen sein, wenn ich ihn umgekehrt hätte, wenn meine geraubte Kraft von einst zurückgekehrt wäre. Alle Bälle des Hasses und der Gleichgültigkeit seitens der Stiefmutter und des ausweichenden Geschwätzes seitens des Vaters, die mir einst entgegengeschleudert und entgegengehalten worden waren, würde ich nun auffangen und zurückwerfen. Ich wusste, dass dies nur eine Angelegenheit für mich selbst sein würde und meine Chancen mich mitzuteilen gering wären; was nichts Neues für mich war – weder in meiner sogenannten Familie noch in der Öffentlichkeit. Heutzutage will man nichts mehr wissen von eindeutigen Helden, Opfern und Tätern. Jede Figur soll alles sein können und es bisweilen auch tatsächlich sein. So versteht man heute das echte Leben. Wenn jemand eine Geschichte mit einem eindeutigen Opfer – nämlich sich selbst – und einer eindeutigen Täterin – dazu noch einer Stiefmutter; als ob wir der Märchenwelt nicht längst entwachsen wären! – verfasst – welchen Anspruch auf Glaubwürdigkeit kann der beim Publikum erheben? Das Publikum hält sich für aufgeklärt und betrachtet das Böse nur für eine Fehlleistung des Guten; eigentlich hält es das Böse für nicht existent. Drei Kränkungen der Menschheit durch einen Astronomen, einen Biologen und einen Psychologen haben die hohe Meinung des Publikums von sich selbst kaum erschüttern können. Noch immer hält es sich für vorrangig geistig und vernunftgemäß und dem Bösen – wenn es überhaupt jemals vorhanden gewesen sein sollte – im Laufe des Zivilisationsprozesses entronnen.
Die Sprachuntersuchung begann sogleich, als ich mit Laura zur Einfahrt gelangt war. Ich sah mich als Vierzehnjährigen auf dem Fahrrad sitzen und nur von dem Gedanken zur Flucht vor der Stiefmutter und meines gesamten sogenannten Elternhauses beherrscht. In meiner Begleitung, ebenfalls auf dem Fahrrad sitzend, befand sich mein Internatskamerad Claus-Peter. Die Stiefmutter eilte aus der Haustür – ich hatte es befürchtet! – stürzte auf mich zu, rief noch rasch: „Damit Du mal siehst, wohin du mit deiner Frechheit kommst!“ und verpasste mir eine – wie man sagt – schallende Ohrfeige. Ich heulte los. Claus-Peter begriff nichts mehr und starrte nur noch auf die Szene. Die Stiefmutter rauschte wieder zurück ins Haus. Mein Vater stand dabei, er war gerade damit beschäftigt gewesen, die Straße zu kehren oder hatte sich anderweitig am Areal der Einfahrt zu schaffen gemacht. Zur Brutalität seiner Ehefrau fiel ihm nichts ein, er schwieg einfach und nahm die Szene hin. „Ja, ja, schon gut! Fahr nur! Fahr nur!“ Es war ihm unangenehm, dass ich auf offener Straße heulte, er wollte die Situation so rasch wie möglich beenden. Damit, dachte er, wäre sie bereinigt: indem ich mit Claus-Peter weggefahren wäre. So geschah es auch.
Was hatte die Stiefmutter veranlasst zu ihrem Gewalt-Begründungssatz „Damit Du mal siehst, wohin du mit deiner Frechheit kommst!“? Die Antwort ist einfach: sie war – wie so oft; beinahe wie immer – schlecht gelaunt und fühlte sich durch mein Auftauchen mit Claus-Peter zusätzlich gereizt – oder wir beide waren die willkommenen Blitzableiter für sie. Bei Claus-Peter in M. wohnte ich während der Sommerferien des Jahres 1972 für ungefähr zwei Wochen, nun hatten mich die Eltern des Freundes beauftragt, einen Krankenschein für den Zahnarzt zu besorgen, weil ich mit Claus-Peter zusammen zu einer Routineuntersuchung gehen sollte. Als ich mit Claus-Peter nach unserer Ankunft im Hof stand, hantierte er am Hinterrad seines Fahrrads. Die Stiefmutter sah aus dem geöffneten Küchenfenster heraus. „Da muss man eben mal den Reifen flicken, wenn er platt ist!“, blökte sie ihn an. Claus-Peter stutzte, entgegnete aber sachlich: „Ei, es ist kein Platten, ich will nur aufpumpen.“ Die Stiefmutter: „Was schreist du mich denn so an, du unverschämter Kerl!“ Jetzt war Claus-Peter perplex. Ich wusste, dass Gefahr im Anzug war und drängte zum Aufbruch. „Aber du hast doch noch gar keinen Krankenschein!“, rief Claus-Peter. „Das ist egal, wir fahren jetzt!“, antwortete ich. „Aber wir sind doch extra deswegen hergekommen!“, beharrte Claus-Peter. „Nein, wir fahren jetzt!“, rief ich verzweifelt, sodass sich Claus-Peter – noch perplexer – umstimmen ließ. Wir schoben unsere Räder zur Einfahrt. Mein Vater sah uns an. Claus-Peter beteuerte, dass er nicht geschrien habe, sondern nur … „Ja, ja!“, unterbrach ihn mein Vater. Er hatte von der Einfahrt aus mitgehört und wusste selbst am besten, wie sich alles verhielt: dass der Terror in seinem Haus regierte in Form seiner gewalttätigen und psychopathischen Ehefrau und in Form seiner selbst, der nichts gegen diesen Terror unternahm, sondern immer nur abwiegelte. So wie er Claus-Peter gegenüber abwiegelte mit seinem „ja, ja!“, und wie er mir gegenüber abwiegelte mit seinem „Ja, ja, schon gut! Fahr nur! Fahr nur!“ Dass ich während der Zeit meiner kurzen Anwesenheit mit Claus-Peter an meinem sogenannten Elternhaus kein einziges Wort mit der Stiefmutter gewechselt hatte, folglich ihr Gewalt-Begründungssatz jeder vernünftigen Grundlage entbehrte, spielte keine Rolle.
(Fortsetzung folgt)