Dialogisierte Berichte aus dem Archiv der Gedenkstätte KZ Osthofen, 5
Frolinde Balser: Studienrat Karl Balser – Lehrer an der „Höheren Bürgerschule“ zu Ober-Ingelheim vom 1. Mai 1923 bis 11. März 1933, Teil 1
Frage: Am 12. März 1933 meldete eine Zeitung für Ober-Ingelheim die Dienstenthebung deines Vaters, des Studienrats Balser. Als Grund wurde deinem Vater von einem SS-Mann mitgeteilt, „dass von jetzt ab in den deutschen Schulen für pazifistische Vaterlandsverräter kein Platz mehr sei.“
Dr. Balser: Schon in der Ausgabe vom Vortag war berichtet worden, dass am 11. März um halb acht Uhr morgens SA-Mitglieder den Eingang der Höheren Bürgerschule bewacht hätten, um meinen Vater am Betreten des Gebäudes zu hindern.
Frage: Er holte Polizei zur Hilfe, um zu seinem Unterricht zu gelangen. Aber es war vergebens; der „pazifistische Gedanke“, für den sich mein Vater „immer sehr stark […] auch in Versammlungen“ ausgesprochen hatte, wie es noch hieß, wurde ihm von den neuen Machthabern zum Fallstrick ausgelegt.
Frage: Du warst damals achteinhalb Jahre alt.
Dr. Balser: Ja, und von den Vorgängen am Vormittag gänzlich ohne Ahnung. Aber es ist mir sehr wohl in Erinnerung, wie sich im einzelnen abspielte, was zur nationalsozialistischen Machtabsicherung gehörte und vielerorts in diesen Tagen in ähnlicher Weise vor sich ging. Dazu gehörten natürlich auch Helfer, Denunzianten erst und dann Ausführende.
Frage: Ihr wohntet damals in Ober-Ingelheim in der Stiegelgasse 48…
Dr. Balser (nickt): Ein schönes altes Anwesen… ein ganz großes Haus. Im 19. Jahrhundert, in der Vormärzzeit, hatte dort der Gerichtspräsident Martin Mohr gewohnt, der 1833 als Demokrat sein Amt verlor – Parallelen der deutschen Geschichte. Nach 1945 hat übrigens der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker im gleichen Haus eine Wohnung mit seiner jungen Familie gehabt.
Frage: Wer gehörte damals zu deiner eigenen Familie?
Dr. Balser: Meine Eltern und ich, meine Großmutter mit ihrer anderen Tochter und deren beiden Söhnen, Hartmut und Otfried Schmidt, die beide auch in die Höhere Bürgerschule gingen. Es war also eine große Familie und es gab viele Zeugen für die Vorgänge am 11. März 1933, zumal meist auch noch Pensionäre in dem großen Haus mitwohnten.
Frage: Welche Vorgänge waren das genau?
Dr. Balser: Ich spielte im Garten um die Pfeifenstrauchlaube vor dem Haus, ein Auto kam die breite Straße im Garten entlang, drei Männer stiegen aus. Sie hatten keine Uniform an, gingen auf das Haus zu und rammelten an der Haustür in der Laube. Die war aber im Winter immer fest verschlossen. Das erklärte ich ihnen und sagte, sie müssten ums Haus herum zur anderen Tür gehen.
Frage: Heißt das, dass dein Vater verhaftet wurde?
Dr. Balser: Ja, nach einer kurzen Weile fuhren die Männer mit meinem Vater im Auto davon. Später hat mir mein Vetter Hartmut erzählt, dass der eine mit vorgehaltener Pistole meinen Vater gezwungen hatte mitzukommen und ein anderer die Telefonleitung herausgerissen hatte. Deswegen lief meine Mutter sofort zu Nachbarn, um mit Freunden aus der Friedensgesellschaft (Philipp Glück und anderen) zu telefonieren, die ihr auch halfen. So gelang es zu erfahren, wohin Karl Balser transportiert worden war: nach Osthofen in das gerade eingerichtete Konzentrationslager für Südhessen bei Worms.
Frage: Konnte deine Mutter sonst noch etwas erreichen?
Dr. Balser: Ja; sie war politisch nicht so sehr engagiert und eher schüchtern, aber sie brachte es fertig, mit Hilfe des Mainzer Polizeipräsidenten, den sie kannte und der durchaus kein Nazi war, meinen Vater nach etwa 14 Tagen, in denen es genug an Misshandlungen gegeben hatte, aus dem KZ Osthofen herauszuholen.
Frage: Wie hat sich dein Vater nach der Entlassung aus dem Konzentrationslager verhalten?
Dr. Balser: Er wurde unter polizeiliche Schutzhaft gestellt, ging nach Darmstadt zu Freunden und meldete sich bei der Polizei, bis auch dies einschlief. Nach Ingelheim ist er vor 1945 niemals wieder zurückgekommen. Unsere kleine Familie zog nach Heidelberg, wo Freunde aus der Gießener Studentenzeit lebten und weil im Badischen die Naziherrschaft erträglicher gewesen ist als im Volksstaat Hessen unter dem Gauleiter Sprenger.