Eine Leseprobe aus dem Roman “Der Golan-Marathon”
„Der Golan-Marathon“ ist ein politischer Roman. Er spielt im Jahr 2033 und erzählt die Geschichte des jungen Physikers Andy, der während eines dienstlichen Aufenthaltes in Syrien mit den Auswirkungen des Bürgerkrieges und der anschließenden Demokratisierung in dem Heimatland seiner Eltern konfrontiert wird. Währenddessen lernt er viel über Land und Leute kennen. Die Liebe zu einer Syrerin gefährdet die Beziehung zu seiner Verlobten Carla, die in Dresden zu Hause geblieben ist.
Der Marathon auf den Golanhöhen, Ausdruck des Friedens der Nahost-Staaten sowie Israels, bildet den Höhepunkt der Geschichte. Traum und Wirklichkeit verwischen.
Die Veröffentlichung dieses Romans wird noch im 2. Q/2015 erwartet
Der Atheist
Andy wachte am Morgen erst kurz vor elf Uhr auf. Damit verpasste er nicht nur das Hotelfrühstück, sondern es blieb ihm auch nur eine Stunde Zeit für die Entscheidung, ob er aus dem Hotel auschecken oder seinen Aufenthalt in Aleppo verlängern sollte. Schnell begab er sich in seine „Meditationskammer“. Unter dem heißen Wasser ließ er die Ereignisse des Vorabends Revue passieren. Er fragte sich, was er eigentlich von Lina wollte und was für ein Spiel er mit ihr trieb. Er war doch derjenige, der beim ersten Blick verzaubert worden war, sie durch die Gassen der Altstadt von Aleppo verfolgt hatte, sie angesprochen und ihr letzten Endes sein Interesse bekundet hatte. Gerade als sie anfing, ihr Herz zu öffnen, zog er sich emotional zurück. Begehrte er sie etwa nur körperlich? Hatte er ernsthaft geglaubt, eine orientalische Frau für eine Nacht ins Bett zu kriegen? Seine interkulturellen Kenntnisse reichten eigentlich aus, um zu wissen, dass so etwas wie ein One-Night-Stand für eine orientalische Frau gar nicht existierte. Hatte er vielleicht doch Gefühle für Lina, aber zugleich Angst, ihr hoffnungslos zu verfallen und sich dabei die Finger zu verbrennen? Möglicherweise meldete sich gerade sein Gewissen mit der Warnung vor einer Affäre, die seine Beziehung mit Carla gefährden könnte. Das schien ihm gut möglich, denn er liebte Carla sehr und hatte ihr gleich am Anfang die ewige Treue versprochen. Andy war sich auch sicher, dass sie die Beziehung nicht beenden würde, obwohl sie so verletzt auf seinen verlängerten Aufenthalt in Syrien reagiert hatte.
Nach dem Duschen machte sich Andy einen Kaffee, setzte sich auf den Sessel neben dem Bett, schaltete den Fernseher ein und ließ seine Gedanken weiter schweifen. Frisch geduscht und mit der Tasse in der Hand wurden ihm einige Dinge klar. Er wusste, dass ihn an Lina viel mehr als das rein Körperliche anzog. Es hatte auch auf emotionaler Ebene zwischen ihnen stark gefunkt. Vielleicht könnte es die große Liebe sein? Diese bräuchte allerdings eine intensive Pflege, um auch eine nachhaltige Partnerschaft zu werden.
Ansonsten wusste Andy vor allem, was er nicht wollte. Auf keinen Fall durfte in Syrien eine „Liebesbaustelle“ entstehen, die er aus dem fernen Deutschland nicht beseitigen konnte. Außerdem wollte er auch nicht vor eine Wahl zwischen Carla und Lina gestellt werden.
Andy stellte seine Tasse auf den Beistelltisch und schaute zum Fernseher. Dort lief eine Sendung über die regionalen Vorbereitungen für die großen Feierlichkeiten zum sechzigsten Jahrestag des Friedens und der Versöhnung, die in Damaskus und Tel Aviv stattfinden sollten. Für die Feierlichkeiten sollten Staatschefs aus der ganzen Welt eintreffen, unter ihnen die amerikanische Präsidentin, die deutsche Bundespräsidentin, der deutsche Kanzler, der spanische König sowie der japanische Kaiser. In diesem Zusammenhang sollte am Festtag der erste Golan-Marathon stattfinden. In der Sendung wurde der Verlauf des Marathons auf einer Karte gezeigt: 42,195 km durch die Golanhöhen, quer über die Grenzen der ehemalig verfeindeten Staaten Syrien und Israel. Plötzlich leuchteten Andys Augen. Durch die Golanhöhen zu laufen, war für ihn eine sensationelle und fast surreale Vorstellung. Er schaute auf das Datumsblatt seiner Uhr. Es blieben gerade drei Tage bis zu dem großen Ereignis. Die Frage, ob er seinen Aufenthalt in Aleppo verlängern sollte, war endgültig beantwortet. Er schaltete den Fernseher aus und fing an, seinen Koffer zu packen.
III
Eine schnelle Onlinerecherche ergab, dass die Bahn von Aleppo nach Damaskus am Flughafen von Aleppo hielt. Deswegen musste Andy vom Hotel aus lediglich einige Minuten unterirdisch laufen, um die Bahnstation zu erreichen. Während er auf den Zug wartete, rief er Lina an. Er bedankte sich für die zwei schönen Abende und informierte sie, dass er schon auf dem Weg nach Damaskus sei.
„Oh“, lautete ihre Antwort. Sie klang überrascht. Mit Verzögerung fuhr sie fort: „Dann wünsche ich dir schöne Tage in Damaskus und einen guten Rückflug.“
„Vielen Dank. Ich melde mich bald bei dir.“
Darauf ging Lina nicht ein. „Ich gebe dir Bescheid, falls ich zwischenzeitlich etwas über die Familie deiner Mutter erfahre.“
„Das wäre toll. Jetzt muss ich aber los. Der Zug ist schon da.“
Der ICE kam pünktlich. Andy stieg ein, legte seinen Koffer in das Gepäckfach und nahm im Großraum Platz. Ihm gegenüber saß bereits ein älteres Paar. Zur Begrüßung lächelte Andy. Der Mann lächelte zurück, aber seine Frau, die ein Kopftuch trug, schaute weg. Andy fiel ein, wie wenigen verschleierten Frauen er in den vergangenen Tagen in Aleppo begegnet war. Es musste sich in den letzten zwanzig Jahren in Syrien diesbezüglich vieles verändert haben, denn Andys Eltern hatten ihm immer ein Bild von Syrien vermittelt, in dem die meisten Frauen ein Kopftuch trugen. Andy konnte sich entsinnen, dass er auf den Straßen von Köln und Berlin wesentlich mehr verschleierte Frauen gesehen hatte als in diesem Land. Bei keiner seiner Begegnungen hatte die Frau ein freundliches Lächeln im Gesicht gehabt. Andy fragte sich, ob das mit dem Islam zusammenhinge und ob die Religion den Frauen verbiete, in der Öffentlichkeit Freude zu zeigen. Möglicherweise zielte ein solches Verbot darauf ab, die Begierde fremder Männer nicht zu entfachen.
Wenn trotz eines dämlichen Kopftuchs ein einfaches Lächeln schon ausreicht, um die Lust eines Mannes zu wecken, dann ist das wohl eindeutig das Problem des Mannes und nicht der Frau, dachte Andy und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Eigentlich hätte der Islam die Männer zähmen müssen, anstatt die persönliche Freiheit der Frauen einzuschränken. Andy versuchte sich vorzustellen, wie das aussehen könnte und wie die Männer, der religiösen Anordnung folgend, die Öffentlichkeit nur mit dunklen Brillen betraten, während ihre Frauen freizügig und lächelnd wie Ballerinen über die Straßen tanzten.
Mit einem Grinsen vertrieb Andy diese absurde Vorstellung. Er fühlte sich wie ertappt, als ihm das Paar gegenüber vorwurfsvolle Blicke zuwarf. Ihn ließ das Gefühl nicht los, dass die Eheleute seine Gedanken gelesen hätten. Andy entfloh dieser merkwürdigen Situation, indem er sein TelTab aus seiner Jackentasche herausholte und auseinanderfaltete. Mit dessen Hilfe buchte er ein Hotelzimmer in Damaskus und meldete sich für den Golan-Marathon an. Anschließend schickte er sein virtuelles Ich auf Einkaufstour durch die Online-Sportläden Syriens. Da er für seinen ursprünglich geplanten kurzen Aufenthalt in Aleppo keine Sportkleidung mitgebracht hatte, musste er jetzt alles, was er für den Marathon brauchte, nachkaufen. Sein virtuelles Ich, das eine exakte Kopie seines biologischen Ichs war, probierte T-Shirts, Hosen und Schuhe an und erstellte eine Liste mit einer Auswahl einwandfrei passender Kleidung. Andy suchte sich einige Sachen davon aus, bezahlte und ließ die Bestellung in sein Hotel in Damaskus liefern.
Andy faltete sein TelTab wieder zusammen und dachte über das Telefonat mit Lina nach. Er war überrascht, wie ausgeglichen Lina am Telefon geklungen hatte. Könnte es sein, dass ihr arabischer Stolz einen traurigen Tonfall am Telefon verbot? Oder hatte sie schon erkannt, dass es zwecklos war, sich in einen unschlüssigen Mann zu verlieben, den sie kaum kannte, der vergeben war und der zudem viertausend Kilometer entfernt wohnte? Andy war noch viel mehr von seiner eigenen Gelassenheit überrascht. Der Abschied von Lina verlief doch nicht so schmerzhaft, wie er ihn ursprünglich eingeschätzt hatte.
Langsam hegte er den Verdacht, dass seine Gefühle für Lina ausschließlich mit dem Ort Aleppo zu tun hatten. In einer Stadt voller Mystik, dem Epizentrum des geheimnisvollen Orients, wo sich alle räumlichen, zeitlichen, kulturellen und emotionalen Koordinaten miteinander verwoben und sich zu einem Netz aus Versuchung und Leidenschaft entwickelten, war es unausweichlich, sich von einer Frau wie Lina verzaubern zu lassen.
Andy war schockiert über seine eigene Schlussfolgerung. Er hielt inne, um die Reichweite und die Konsequenzen seiner These zu erfassen. Sollte diese stimmen, würde das bedeuten, sein Gefühlskompass in Aleppo wäre gar nicht intakt gewesen und seine Gefühle für Lina wären reine Einbildung oder sogar Täuschung gewesen.
Nachdenklich und verwirrt schaute Andy aus dem Fenster, ohne draußen etwas wahrzunehmen. Langsam, wie aus einem Koma erwachend, begann er, die Umrisse einer verschwommenen Landschaft zu erkennen. Erst nach einer Weile war er wieder in der Lage, in die Ferne zu schauen. Draußen erstreckte sich eine beeindruckende Hügellandschaft mit Olivenplantagen, so weit das Auge reichte. Andy stellte sich vor, wie diese faszinierenden Bäume, die mehrere tausend Jahre alt werden können und Jahr für Jahr bis zu sechshundert Kilogramm Oliven tragen, über ein Gedächtnis verfügen würden und dazu noch über die eigenen Erlebnisse und Erinnerungen zu berichten in der Lage wären. Was für ein unermesslicher Schatz wäre dies? Während ein junger Baum von den über ihn hinweg jagenden Kampfjets des Bashar al-Assad erzählen könnte, würde sich ein anderer im mittleren Alter an den Sultan Saladin und die Kreuzritter erinnern. Ein noch reiferer Baum könnte die Details der Schlacht zwischen dem römischen Kaiser Aurelian und der syrischen Königin Zenobia enthüllen.
Andy drehte den Kopf und schaute aus dem Fenster der anderen Seite des Zuges. Dort bot sich ihm eine Science-Fiction-Szene: eine flache Landschaft, die bis zum Horizont mit Solarzellen gepflastert war. Andy rief sich die Karte von Syrien ins Gedächtnis. Darauf war zu erkennen, dass die Achse Aleppo – Damaskus die syrische Steppe von der fruchtbaren, mediterranen Berglandschaft namens Anti-Libanon-Gebirge trennte. Wie es aussah, nutzte man diese nun für ein ambitioniertes Solarprojekt.
Das Andy gegenüber sitzende Paar bekam von dem faszinierenden Kontrast der beiden Landschaften nichts mit. Während der Mann in ein mobiles Gerät vertieft war, schlief seine Frau. Ihren Kopf lehnte sie dabei so stark nach hinten, dass sie Andy einen weiten und tiefen Einblick in ihre Nasenlöcher ermöglichte. Theoretisch hätte er die Nasenhaare der älteren Dame zählen können. Er fragte sich spaßeshalber, ob es mit dem Islam in Einklang zu bringen sei, die Kopfhaare zu bedecken, aber zugleich die Nasenhaare in vollem Umfang zur Schau zu stellen.
Obwohl seine Blase nicht voll war, beschloss Andy aus Langeweile einer der Zugtoiletten einen Besuch abzustatten. Nach dem Toilettengang stand er einen Moment nachdenklich vor der Tür und schaute abwechselnd den Gang entlang nach links und rechts. Er entschied sich, nach links zu gehen – weg von seinem Sitzplatz.
Andy lief durch einige Waggons, bevor er das Zugrestaurant erreichte. Es war voll. Nur ein einziger hoher Tisch mit zwei Hockern war noch frei. Andy beeilte sich, um sich den Tisch zu sichern. Er setzte sich hin und warf einen Blick auf die in seinem TelTab erschienene Speisekarte. Er wählte ein Tawouk Sandwich aus, welches mit würzig mariniertem Hähnchen gefüllt war, ein Falafel Sandwich und dazu ein al-Sharq Bier.
„Ist dieser Platz noch frei?“, fragte ein Mann und zeigte auf den zweiten Hocker an Andys Tisch. „Ja, klar“, bestätigte Andy und blickte aus dem Fenster. Der Zug stand schon. Mit prüfendem Blick suchte Andy nach einem Ortsschild am Gleis: Hama. Andy erinnerte sich an einen Beitrag über diese Stadt, der einmal im Fernsehen lief. Sie war berühmt für ihre Norias – die größten Wasserräder der Welt, die zum Teil seit byzantinischen Zeiten der Bewässerung der Gebiete am Fluss Orontes dienten. Hundert Norias hatte es früher gegeben, aber heute waren lediglich siebzehn noch in Betrieb. Berüchtigt war Hama ebenfalls – für das Massaker von Hafiz al-Assad an den Bewohnern am Anfang der Achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, bei dem zehntausende Menschen starben.
„Bitte sehr“, sagte der Kellner, der Andys Bestellung sowie einen Kaffee für den Tischnachbarn brachte. Letzterer war in Andys Alter und hatte lange Haare. Andy fiel das T-Shirt des Mannes auf. Darauf stand in arabischer Sprache geschrieben:
„Ana Mulhed, izan ana mawjoud.“
Andy schmunzelte über den Spruch, der auf Deutsch so viel wie
„Ich bin Atheist, also bin ich“ bedeutete.
„Schönes T-Shirt.“
Der Mann lächelte. Offensichtlich freute er sich über das Kompliment. „Sind Sie auch Atheist?“
„Das ist doch irrelevant“, antwortete Andy. „Die Hauptsache ist, dass auch diese Haltung einen würdigen Platz in dieser Gesellschaft hat. Darüber freue ich mich.“
„Tatsächlich, es ist nicht lange her, dass Menschen in dieser Ecke der Welt sich mit der Veröffentlichung eines solchen Slogans in Lebensgefahr begeben haben und zum Teil sogar wirklich deswegen umgebracht worden sind.“
„Ich bin immer noch verwundert darüber, wie das gelungen ist – es ist ja eine kulturelle Revolution im wahrsten Sinne des Wortes“, sagte Andy und blickte den Mann neugierig an.
„So ist es“, antwortete der Mann knapp und ließ seine Augen über die Köpfe der Restaurantgäste wandern. Das offensichtlich verhaltene Interesse des jungen Mannes an einer weiteren Unterhaltung über dieses Thema zwang Andy zum Nachlegen.
„Meine bescheidenen Eindrücke von diesem Land haben mir zu der Einsicht verholfen, dass Atheisten, Schwule, Lesben, unverheiratete Paare und Israel-Freunde eine anerkannte Stellung in der Gesellschaft haben. Genauso wie fromme Muslime, konservative Christen und nationalistische Araber und Kurden.“ Mit dieser Behauptung versuchte Andy den Mann aus der Reserve zu locken. Dieser nickte zustimmend, ohne die Ausführung Andys zu kommentieren. Andy ließ aber nicht locker. Er wollte den Menschen, denen er begegnete, so viele Informationen wie möglich entlocken und nahm dabei in Kauf, ihnen auf die Nerven zu gehen. „Was war aus Ihrer Sicht ausschlaggebend für diese Veränderung? Der Krieg kann doch nicht der einzige Grund gewesen sein.“
„Eigentlich schon“, widersprach der Mann und nahm einen Schluck von seinem heißen Kaffee. Nach einem kurzen Schweigen fing er an, seinen Einwand zu begründen. Damit ging Andys Taktik auf.
„Die Kriegsjahre haben die Menschen müde und konfliktscheu gemacht“, sagte er. „Keiner wollte irgendeine religiöse, nationalistische, patriotische oder ethnische Fahne mehr schwenken. Keiner wollte für oder gegen irgendetwas kämpfen. Die Menschen hatten einfach die Nase voll von Ideologien und hatten auch keine Lust mehr, irgendjemanden für irgendeine Haltung zu hassen. Sie wollten lediglich in Frieden leben.“
„Interessanter Ansatz“, kommentierte Andy. „Es ist traurig festzustellen, dass Kriege doch Vorteile haben können.“
„Ich würde nicht von Vorteilen reden, sondern von den Lehren, die aus einem Krieg gezogen werden können“, widersprach der Mann erneut. Andy fühlte sich dadurch wie ein kleiner, naiver Schüler. Auf der anderen Seite konnte er mit den Kenntnissen und Erfahrungen der Menschen dieses Landes, die unter einem verheerenden Krieg und seinen Folgen stark gelitten haben, nicht im entferntesten Sinne mithalten.
„Zur Info: Mein T-Shirt ist lediglich ein Produkt aus einer Serie namens ‚Der Philosoph Ali Baba’. Dort gibt es viele weitere Querdenkerzitate und provokante Slogans.“
„Ah“, meinte Andy knapp. Er ließ sich von dem Versuch eines Themenwechsels nicht beirren.
„Und was ist mit den konservativen Muslimen passiert?“
Sein Nachbar runzelte verwundert die Stirn. „Was soll aus denen geworden sein?“, antwortete er mit einer Gegenfrage.
„Man sieht sie kaum und man hört von denen auch nicht viel. Überhaupt: Wie haben Sie diese Veränderungen verkraftet? Der Islam toleriert doch keine Homosexuellen und Atheisten.“
Der Mann holte tief Luft, als ob das Gespräch gleich unter Wasser weitergehen würde.
„Der Aufstieg der fanatischen Muslime, der Djihadisten und letzten Endes der Terrororganisation Islamischer Staat hat damals bei den Menschen einen Schock ausgelöst und zu einer leidenschaftlichen Grundsatzdiskussion über den Islam und seine Rolle in der Gesellschaft geführt. Daraus resultierend ist eine moderne Variante des Islam entstanden.“
„Eine moderne Variante des Islam!?“, wiederholte Andy erstaunt.
„Ja. Bis dahin war der Islam eine starre Religion, die sich über tausendvierhundert Jahre kaum entwickelt hat. Das Problem bei dieser Unbeweglichkeit besteht in dem Glauben an einen göttlichen Auftrag, die islamischen und nicht-islamischen Gesellschaften – praktisch die gesamte Welt – zu führen.“
„Sie wollen mir damit sagen, dass der Islam sich von seinem Führungsanspruch verabschiedet hat?“
„Nicht vollständig und nicht überall. Es entstand zumindest ein neues Verständnis vom Islam, der sich lediglich auf die vertikale Beziehung zwischen Gott und Mensch beschränkt, ohne den Anspruch auf das Beherrschen oder Umerziehen von Mitmenschen im Namen der Religion zu haben. Und diese neue Auffassung verbreitete sich wie ein Strohfeuer, vor allem in Syrien.“
„Leben und Leben lassen als Leitsatz des islamischen Glaubens. Das ist einfach unglaublich“, sagte Andy und schüttelte dabei den Kopf.