DAS ZEPTER DER NYX


Thomas Berger, DAS ZEPTER DER NYX. Materialien zum Lobpreis der Nacht

Kelkheim, 1998, Seiten 13, 20 und 108

 

Nachtbläue und Tag wechseln beständig im Erdkreis. Das harmonische Schauspiel der Natur zu betrachten und nach Art der Wissenschaft zu zergliedern, genügte den Alten nicht; sie gelangten vielmehr zu dessen Deutung: Die Nacht geht dem Tag voran, setzt ihn ins Sein, das Licht entstammt den Dunkel.

 

Ohne den Tag würde das Leben erlöschen; denn die Organismen bedürfen der Energie der Sonnenstrahlen. Doch der Grund des Lebendigen reicht tiefer hinab, die Wurzeln lichtabhängiger Wesen liegen im Finstern.

 

Ein breiter Überzeugungsstrom durchzieht Dichtungen, Mythen und Sprachgebräuche verschiedener Völker: Morgentau und Abendstern, Sonnenglast und Nachtschwärze, in deren regelmäßige Wiederkehr organisches Sein eingewoben ist, enthüllen die Priorität der Nacht gegenüber dem Tag.

 

Wenn Nyx ihre schwarzen Schleier faltet und sich in die Unterwelt zurückzieht, hebt Morgenröte an, das Nahen helllichten Tages zu künden. Nun verwehen Bilder und Stimmen der Träume, erquickender Schlaf hofft vergebens auf Dank. Die Sterblichen werfen sich der Sonne an die Brust und stürzen zum glänzenden Tor des Schaffens. Beim Abendläuten widerstreben sie heftig der Lehrmeisterin Zeit, die zur Rückkehr in die finstere Heimat mahnt. Sie klammern sich an das Licht, wollen unter allen Umständen tätig sein und nicht ruhen –wollen leben und nicht sterben. Nichts schreckt sie so sehr wie Nacht und aller Tage Abend.