Das Meerchen


 

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Das Meerchen

Sei es als Reiseleiter oder ganz privat im Urlaub – über kurz oder lang komme ich an das Mittelmeer und es ist jedes Mal ein ganz besonderes Erlebnis. Und jedes Mal bin ich mir beim Abschied sicher, dass wir zwei noch lange nicht miteinander fertig sind, das Mittelmeer und ich.

Ich tröste mich damit, dass ich nicht der Einzige bin, der dieser Faszination Mittelmeer immer wieder erliegt. Man sehe nur einmal die Zahl der jährlichen Urlauber auf Mallorca an – da war ich übrigens noch nicht…

Sei es als Ausgangs-, Zwischen- oder Endstation für Rundreisen per Bus oder Fahrrad, sei es im jährlichen privaten Urlaub auf Kreta: grob geschätzt bin ich inzwischen an die 20 Mal am Mittelmeer gewesen, von Barcelona bis Tel Aviv, von Tunesien bis Istrien und zwischendrin auch an der ein oder anderen Ecke. Und nie habe ich den Gedanken gehabt, dass es allmählich langweilig wird, im Gegenteil, ich möchte noch mehr von diesem Meer kennenlernen.

Ich habe das Mittelmeer schwarz und stürmisch erlebt, dann wieder, bei Capri beispielsweise, unfassbar blau, ich habe Sandstrände kennengelernt, Kiesstrände, Geröllstrände und Stellen, an denen die Alpen übergangslos ins Meer eintauchen. An der dalmatinischen Küste gibt es spektakuläre Uferabschnitte, ebenso von Marseille bis hinter Cinque Terre in Italien, an anderen Stellen, bei Perpignan etwa, merkt man kaum, wo das Festland endet und das Meer beginnt.

Dabei kann man das Mittelmeer bei einem flüchtigen Blick auf die Weltkarte glatt übersehen. Im Vergleich zu den großen Ozeanen ist es eher winzig. Ein Mini-Meer, ein Meerchen. Es hat in weiten Teilen noch nicht einmal einen ordentlichen Tidenhub. An meinem Urlaubsort Kalamaki im Süden von Kreta merkt man kaum, ob gerade Ebbe oder Flut ist.

Und spätestens seit dem 15. Jahrhundert hat das Mittelmeer auch als Kulisse für große Abenteuer- und Entdeckungsreisen ausgedient. „Piraten der Karibik“ – das war im Kino ein mehrteiliger Renner, „Piraten der Ägäis“ – dafür bekäme heute wohl kaum ein Produzent ein ordentliches Budget zusammen. Und dabei ist doch Homers „Odyssee“, genau besehen, die Textvorlage für ziemlich alles, was Jack Sparrow zugestoßen ist.

Überhaupt ist die Gegend um das Mittelmeer, insbesondere um den östlichen Teil, eine Textvorlage für weite Teile unserer heutigen Kultur. Das Mittelmeer ist so etwas wie die Petrischale, aus der das erwachsen ist, was deutsche Politiker gern als „unsere christlich-abendländische Kultur“ reden, dann meinen sie eigentlich ein recht krauses Gemísch aus arabischer Mathematik, griechischer Philosophie und Demokratie, vorderasiatischem Monotheismus und das Ganze gemischt mit einer Prise römischer Diktatur. In der Region um das östliche Mittelmeer herrschte schon Hochkultur, als bei uns, um den von mir verehrten Historiker Ernst Werner zu zitieren, „die Germanen noch ihre Weiber an den Haaren in die Höhle zerrten“. (Dass in dem Gebiet, das wir heute Deutschland nennen, etliche Eingeborene nach wie vor nicht allzu weit über die zitierte Stufe der Zivilisation hinausgekommen sind – geschenkt.)

Der „christlich-abendländischen Kultur“ (manchmal noch durch ein eingeschobenes „jüdisch“ erweitert, als könne man damit die eigene Legitimation noch ausdehnen und andererseits den Holocaust als etwas erklären, was ja zwangsläufig gar nicht aus dieser Kultur erwachsen sein kann, also von außen gekommen sein muss) ist es allerdings auch zu verdanken, dass das Mittelmeer in den vergangenen Jahren eine dramatische Wandlung erfahren hat. Aus einer jahrtausendealten Nahtstelle zwischen Kontinenten und Kulturen wurde die längste und vielleicht tödlichste Grenze dieser Welt.

Bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Regionen und Menschen kann man heute sagen: Nördlich des Mittelmeeres sitzen die Länder und Menschen, die von der Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte profitiert haben – und südlich davon jene, die dabei verloren haben.

Die christlich-abendländische Kultur hat kein Problem damit, den Menschen außerhalb des „Geltungsbereiches“ dieser Kultur schrittweise die Lebensgrundlagen zu entziehen. Sie hat allerdings ein Problem damit, wenn diese Menschen, einfach um überleben zu können, den Weg nach Europa auf sich nehmen. Dann zeigt das christlich-abendländische Europa, dass es auch ganz schnell die Schotten dicht machen kann.

Eine Zeitlang existierte die sogenannte „Balkanroute“. Die haben die Politiker zwischen Berlin und Ankara schnell wieder geschlossen. Bleibt also wie zuvor nur der Weg über das Mittelmeer. Der oft tödliche Weg.

Ich weiß, gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen, aber ich würde gern jene erzgebirgischen und südthüringer Karnevalisten, die auf den Rosenmontagszügen die „reisefreudigen Afrikaner“ aufs Korn nehmen (Ist doch alles nur Satire, das muss doch wohl noch erlaubt sein!) ein Vierteljahr ohne einen Cent in der Tasche an einen interessanten Ort schaffen, wo sie versuchen müssen, einigermaßen zu überleben. Da böten sich Dörfer im Niger an, wo dank des Klimawandels außer Sand gar nichts mehr wächst. Ein Fischerdorf im Senegal, dessen Küsten von europäischen und asiatischen Supertrawlern leergefischt worden sind. Eine ausgebombte Stadt wie Aleppo oder Homs in Syrien. Das Verrückte ist: die Menschen dort würden ihn nicht verhungern lassen, sie würden das Wenige, was sie haben, noch mit ihm teilen. Aber anschließend würde ich mit diesen selbstgerechten, bornierten besorgten Bürgern noch einmal über den Begriff des Wirtschaftsflüchtlings diskutieren.

Das Mittelmeer ist wunderschön und unter seiner Oberfläche befindet sich das vielleicht größte Massengrab seit Ende des zweiten Weltkrieges, größer als jeder Gulag, als Srebrenica – und den üblichen Betroffenen und empörten Opferverbänden kaum ein Wort wert.

Es ist wie mit so vielen Dingen im Leben: Man soll die Schönheit genießen – und ich werde es immer wieder genießen, am Mittelmeer sein zu können, jedes Mal wieder aufs Neue. Aber hin und wieder sollte man auch daran denken, was unter der schönen Oberfläche liegt.

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