Besuch des Bischofs, Teil 2


Besuch des Bischofs, Teil 2

 

Der Rektor gibt den Musikern ein Zeichen zu beginnen; anhebt eine „Hintergrundmusik“, und die Geräuschkulisse im Saal entsteht von neuem. Ich sehe mich wieder die Suppenkelle in der Hand halten – habe ich sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten, als der Rektor sprach? – und dem Tischnachbarn zunicken, der sie mir gereicht hat. Nun kann ich ihn vielleicht in ein Gespräch ziehen, denke ich, aber er wird schon angesprochen von einem der Schüler:

„Du, P., hast du gehört? Der Rektor übernimmt den Religionsunterricht am Gymnasium.“

„Das ist mir gleich!“, antwortet P. und fügt hinzu: „Ich lasse mich nicht zwingen, die Religion zu lernen, ich glaube den Schwindel nicht mehr!“

Ein anderer Zögling schaltet sich ein, es entwickelt sich ein kurzer Disput zwischen den Primanern und Heinrich P.:

„Es würde mich nicht wundern, wenn du rausgeschmissen wirst, P., so wie du dich aufführst!“

„Wie führe ich mich denn auf?“

„Seit Monaten zeigst du eine unreligiöse Haltung und versäumst deine Beichtpflicht, selbst vor einer angeordneten Generalkommunion!“

„Und was du gestern in der Kapelle bei der heiligen Wandlung geäußert hast – ich kann das nicht wiederholen!“

„Dadurch hast du deinen vollen Unglauben und die völlige Verachtung alles Heiligen gezeigt!“

„Der Rektor braucht es ja nicht zu erfahren“, wendet P. ein.

„Der weiß es längst!“, kriegt er zu hören.

„Dann bestreite ich alles“, sagt P., anscheinend schon etwas unsicher geworden.

„Es gibt Zeugen“, erwidert ein Schüler, „zwei Unterprimaner, der Rektor hat sie schon vernommen.“

„Glaub mir, P., du fliegst, und es ist ja auch richtig so: einer wie du in einem Haus wie dem unsren!“

Alle in unserer Nähe rücken von Heinrich P. ab, niemand scheint mehr etwas mit ihm zu tun haben zu wollen. Verdutzt schaue ich in die Runde… Einer der sieben Rektoren nimmt die Tischglocke zur Hand und lässt sie kurz erklingen, bleibt dabei aber sitzen. Ich spüre, was gemeint ist, stehe auf, verbeuge mich vor den Primanern samt dem rebellischen Heinrich P., der mit gesenktem Kopf dasitzt, und gehe zur zweiten Tischreihe, wo ich mit erwartungsvollen Blicken zu einem leeren Stuhl gelotst werde. Hier sitze ich zwischen etwas jüngeren Schülern als eben, wohl Sekundanern, die mir freundlich zunicken. Die Suppenschalen und -kellen sind verschwunden, ebenso die Suppenteller und -löffel, dafür liegen Platten mit Weckschnitten, Eiern und Gemüse auf den Tischen (auch an den beiden andren Tischreihen, wie mir ein rascher Blick zeigt). Die Zöglinge beladen sich zwar ihre Teller mit den guten Speisen, fangen jedoch noch nicht mit dem Essen an, sondern schauen gespannt zum „Herrentisch“ der Rektoren. Ich weiß, was das bedeutet, weil es zu meiner Zeit in den Siebzigern nicht anders sein wird (nicht anders war); der „Herrentisch“ gibt mit dem „ersten Spatenstich“ die Freigabe für den nächsten Gang. (So war es vorhin auch mit der Suppe; ich habe es versäumt zu berichten!) Jetzt ist es so weit! Weckschnitten mit Eiern und Gemüse landen in den Mündern zufriedener Konvikts-Schüler; sie nicken mir noch immer freundlich zu, aber ein Bedürfnis nach Unterhaltung mit mir verspüren sie anscheinend nicht.

„Iss nur ordentlich, Anton!“, ruft einer der Zöglinge meinem Tischnachbarn zur Rechten zu, „wer weiß, ob du draußen nochmal so was Gutes bekommst!“

„Was meinst du damit?“, frage ich.

Ein mehrstimmiger Chor der Mitschüler Antons antwortet mir: „Sie haben kein Geld zu Hause.“

„Sein Vater ist schwerkriegsbeschädigt, zu achtzig Prozent! Der rechte Arm ganz gelähmt. Als Gemeindeschreiber verdient er sich noch ein bisschen dazu, mit dem linken Arm.“

„Noch ein bisschen dazu“, wiederhole ich und frage: „Wozu?“

„Zur Kriegsversehrten-Rente“, erhalte ich zur Antwort.

„Davon lebt die Familie?“, frage ich weiter und schaue dabei Anton S. an, der die Antwort jedoch einem seiner Mitschüler überlässt:

„Sie haben noch eine kleine Landwirtschaft, die wird von der Mutter geführt.“

„Und Geschwister?“, frage ich Anton S., „hast du noch Geschwister?“

„Oh ja, die hat er“, antwortet statt Anton S. sein Nachbar gegenüber, „ein älterer Bruder ist seit kurzem verheiratet und außer Haus, dann hat er noch zwei zwölfjährige Zwillingsschwestern und einen zehnjährigen Bruder.“

„Aber höre, S.“, sagt einer der Sekundaner, „ist euch das Kostgeld nicht schon einmal ermäßigt worden auf 480 Reichsmark?“

Nun ergreift Anton S. zum ersten Mal selbst das Wort:

„Ja, das stimmt… Meine Eltern zahlen pünktlich, da gibt es kein Versäumnis. Für das laufende Jahr ist schon alles beglichen.“

„Na also“, kriegt er zu hören, „wo liegt das Problem?“

„Das Problem liegt darin“, antwortet Anton S., „dass es meinen Eltern hart ankommt, das Kostgeld für mich aufzubringen. Deswegen will ich aus dem Konvikt austreten und in die Stadt ziehen, so schwer es mir fällt.“

„Wo willst du wohnen? Hast du schon ein Zimmer?“

Anton S. nickt:

„In der Unteren Fischergrube, vierzehn Mark monatlich.“

„Und Essen?“

„Bei den Kapuzinern“, antwortet Anton S., „Mittag- und Abendtisch zu 10 Mark monatlich.“ Nach einer kurzen Pause sagt er: „Jedenfalls habe ich darum nachgesucht.“

„Aber noch keine Antwort?“

Anton S. schüttelt verneinend den Kopf.

„Warte ab!“, versucht ihn jemand aufzumuntern, „du hältst dich ordentlich im Konvikt, ein leidlich guter Schüler bist du auch, und das Wichtigste: du willst Pfarrer werden! Sie machen eine Ausnahme und senken das Kostgeld noch einmal!“

„Meinst du?“, fragt Anton S. und lächelt schwach.

„Du wirst an mich denken, Bruder!“, sagt der Sekundaner.

„Andererseits“, überlegt ein anderer nach einer kleinen Pause, „allein in der Stadt zu wohnen… – stellt euch das mal vor!“

Fortsetzung folgt

 

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