Klaus G.s Aufzeichnungen
Eine Art Vorbemerkung
B., 07. April 1965
Nach dem Unfall hatte ich viel Zeit zum Überlegen. Wochen und Monate, in denen ich „nur schnell wieder gesund werden“ sollte, wie man mir sagte. Einige Verletzungen erwarben sich jedoch den Status des „bleibenden Schadens“. Immerhin kann ich wieder arbeiten, wenn auch nicht mehr im Streifendienst. Ich bedaure das, denn trotz unangenehmer Auftritte mit Betrunkenen, prügelnden Kerlen usw., vor allem auch Unglücksfällen, von denen ich Zeuge wurde, hat mir die Arbeit „vor Ort“ gefallen.
Die Unglücksfälle – ganz gleich, worum es sich handelte: Verkehrsunfälle, häusliche Unfälle oder was auch immer – haben mich immer beschäftigt; vielleicht mehr, als einem Polizisten guttut. Aber zwischen diesen Ereignissen geschah längere Zeit nichts, war nur der Alltag zu bewältigen. Ich war so wie alle, dachte das Gleiche, erfreute mich am Gleichen; kurz: unterschied mich nicht. Der Unfall riss mich aus dieser Art Leben heraus.
Warum ich? Hatte ich am Unfallabend nicht leichte Kopfschmerzen, und der Kollege M. erbot sich, für mich den Streifendienst zu übernehmen? Ich hätte auf der Station bleiben und Wachdienst schieben können. Aber wie würde ich heute damit umgehen, dass der Kollege M. in meiner Lage wäre? Aber wäre er es überhaupt? Hätte er nicht anders gesprochen und reagiert während der Verfolgungsfahrt, und in der Summe hätte es dazu geführt, dass der Unfall im Straßengraben unterblieben wäre? – Sinnlose Fragen, weil es niemals eine Antwort auf sie geben kann. Und selbst wenn es eine Antwort gäbe: was nützte sie mir? Der Unfall würde damit nicht rückgängig gemacht werden.
Ich muss mich mit den Folgen arrangieren. Die sind unübersehbar, vor allem wenn ich laufe. Seit dem Unfall bin ich ganz andere Blicke von Frauen gewohnt, wie ich sie vorher niemals auf mich gerichtet fühlte. Es sind Blicke, die mich in ein anderes Universum versetzen, als das, in dem ich vorher wohnte und in dem die verheißungsvolle Gemeinschaft mit Frauen immer den Horizont erhellte.
Die Tätigkeit in der Registratur scheint dazu geeignet, mich tiefer in meinen grüblerischen Stillstand zu ziehen, handeln die Berichte der (früheren) Kollegen über besondere Vorkommnisse doch meistenteils von tragischen Verhängnissen, in die der Mensch geraten kann. Andererseits darf ich nicht übersehen, wie viel unerbittlicher es manche Menschen trifft, als mich, der ich im Vergleich nur einen Streifschuss abbekommen habe.
Abends schreibe ich Geschichten auf und bediene mich dabei mancher Versatzstücke aus den Berichten, die ich tagsüber zu registrieren habe. Sage niemand, das Schicksal sei gefühllos: es hat mir eine neue Leidenschaft zugespielt.
Geschoss in der Haustür
B., 24. Mai 1968
Wie immer kam ich gegen 16.30 h nach Hause. Als ich mich durch den Vorgarten der Haustür näherte, bemerkte ich an ihrem unteren Teil ein Loch, vielleicht acht Millimeter groß. Bei näherem Hinschauen entdeckte ich ein Geschoss in der Tür; es war nicht völlig in das Holz eingedrungen, wahrscheinlich deshalb, weil die fragliche Stelle mit Blech verkleidet ist.
Meine Empfindungen waren gemischt: einerseits packte mich der Schrecken, andererseits beruhigte mich der Gedanke, dass meine Frau und unsere Tochter schon am Vortag zu einem Geburtstagsbesuch bei Verwandten nach Berlin aufgebrochen waren. Ihnen konnte also nichts passiert sein! Aber warum schoss jemand auf unser Haus? Gab es vielleicht noch mehr Einschussstellen? Verwirrt suchte ich die Vorderfront des Hauses ab, trat dazu einen Schritt zurück – als mich die Furcht beschlich, der Schütze könne vielleicht noch auf der Lauer liegen. Jetzt wollte ich nur schnell ins Haus gelangen und die Polizei anrufen. Ich zwang mich zur Ruhe, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Haustür.
Als die Polizei bei mir eintraf, sollte ich „die Zeit des Anschlags“ nennen; da konnte ich nicht weiterhelfen. Ich wiederholte, was ich schon am Telefon gesagt hatte: dass ich das Loch in der Tür heute beim Nachhausekommen entdeckt hätte.
Aber beim Weggehen heute Morgen sei es noch nicht da gewesen?
„Nein, nicht dass ich wüsste“, entgegnete ich; aber sicher war ich mir nicht.
Einer der Beamten bemerkte mein Stocken und sah mich fragend an.
„Ja, ich meine, ich habe nicht auf den unteren Teil der Tür gesehen, als ich aus dem Haus trat.“
„Aber beim Nachhausekommen haben Sie schon auf den unteren Teil der Tür gesehen?“
„Ja, weil ich beim Nachhausekommen die Tür als Ganzes im Blick habe, da fiel mir die Beschädigung durch den Einschuss auf.“
Der Polizeibeamte nickte, meine Antwort schien ihm plausibel zu sein.
„Andererseits“, sagte ich…
„Andererseits?“ fragte der Beamte.
„Wenn der Schuss am frühen Morgen oder in der Nacht erfolgt wäre, hätte ich ihn doch hören müssen, oder?“
„Wahrscheinlich; wir müssen das überprüfen.“
Jetzt war ich es, der fragend schaute.
„Wir müssen überprüfen, wo ihr Wohnzimmer, ihr Schlafzimmer liegt, ob sie Musik gehört haben, Fernsehen gesehen haben, was vielleicht den Knall übertönt hat. Fertigen Sie mal einen Plan Ihres Hauses an, mit allen Stockwerken, und versuchen Sie sich zu erinnern, wo Sie wann in Ihrem Haus gewesen sind im fraglichen Zeitraum.“
Ein anderer Beamter machte eine zweifelnde Miene zur Aussage seines Kollegen. Dann sagte er:
„In jedem Fall brauchen wir zunächst einmal ein ballistisches Gutachten, dann sehen wir weiter.“
Er wandte sich an einen Mann des Erkennungsdienstes, der mit einem Kollegen mit Fotoapparat, Pinseln und Tüten an der Tür beschäftigt war und fragte:
„Seid ihr dann so weit?“
„Ja, nicht mehr lang“, erhielt er zur Antwort.
Es gab mir Gelegenheit nach der möglichen Herkunft des Geschosses zu fragen.
„Wenn ich die Schussrichtung meine“, antwortete ein Beamter, gebe es bis jetzt nur Vermutungen. In der Nähe befinde sich die S.-Kaserne der Amerikaner… Er wandte sich an die Kollegen vom Erkennungsdienst:
„Ist es ausgeschlossen, dass der Schuss aus Richtung Kaserne kam?“
Nein, ausgeschlossen sei das nicht.
Was nun geschehe? wollte ich noch wissen, als die Beamten schon im Aufbruch begriffen waren.
Die kriminalpolizeilichen Maßnahmen seien im Gang, lautete die Antwort, das Projektil sei sichergestellt, nun werde das CID Mannheim und das HLKA Wiesbaden informiert und gemeinsame Ermittlungen von CID und Spezialbeamten des HLKA vorgeschlagen.
Ich nickte nur, obwohl ich nicht wusste, was CID für eine Abkürzung war; HLKA konnte ich mir noch zusammenreimen: Hessisches Landeskriminalamt.
Nachdem sich die Beamten schon von mir verabschiedet hatten und zur Tür hinaus waren, drehte sich noch einer von ihnen um und fragte mich:
„Haben Sie Feinde? Selbst eine Vermutung?“
Ersteres wies ich von mir; entschieden; auch zum zweiten wusste ich nichts zu sagen.
Als ich dann allein im Haus war, wunderte ich mich: Hätte die Polizei mich hier zurücklassen dürfen, obwohl sie nicht wusste, wer der Schütze war und wo der Schuss herkam? Szenen aus Krimis fielen mir ein: vom erleuchteten Fenster wegbleiben! Im Dunkeln ließ ich die Rollläden herunter – und ängstigte mich davor, dass der – in meiner Einbildung noch immer auf der Lauer liegende – Schütze nun deutlich sehen konnte, dass ich im Haus war.
(Wird fortgesetzt)