Angelika Rieber und Eberhard Laeuen: „Haltet mich in gutem Gedenken“. Rezension


Rezension

Angelika Rieber und Eberhard Laeuen: „Haltet mich in gutem Gedenken“. Erinnerung an Oberurseler Opfer des Nationalsozialismus. Oberursel 2015 (Verlag Spurensuche, ISBN 978-3-00-050714-4), 121 S., zahlreiche Abbildungen.

 

Zwei Wege der Erinnerung sind in Oberursel beschritten worden, um der Opfer des Nationalsozialismus in der eigenen Stadt zu gedenken. Am Hospitalplatz steht ein Denkmal, das auf einen Entwurf von Juliane Nikolai zurückgeht und von der Bildhauerin Christine Niederndorfer (1968-2016) ausgeführt worden ist. Es zeigt zwei Gruppen von Menschen, die sich hinter Steinblöcken zugewandt sind. Zwischen den Steinblöcken, die an Häuser erinnern und die Stadtgemeinschaft symbolisieren, ist eine Glastafel eingelassen mit den Namen der in Oberursel ausgegrenzten, verschleppten und ermordeten Menschen; auch den Namen derjenigen, die mit Oberursel verbunden waren, aber von anderen Orten aus deportiert wurden. Die Glastafel kann von beiden Seiten des Denkmals „durchschaut“ werden, trotzdem steht sie als „Trennendes“ – der Nationalsozialismus – zwischen ihnen und verhindert die frühere Gemeinschaft. Welche Lebenswege und Schicksale sich hinter den Namen auf der Glastafel verbergen, ist in einem Buch nachzulesen, das von Angelika Rieber in Zusammenarbeit mit der „Initiative Opferdenkmal“ herausgegeben wurde und Beiträge von Angelika Rieber und Eberhard Laeuen enthält.

Der Titel des im DIN A4-Querformat erschienenen Buches ist ein Zitat aus dem Abschiedsbrief Bertha Röders (Jg. 1888) an ihre Kinder, bevor sie aus dem Untersuchungsgefängnis in der Klapperfeldstraße in Frankfurt am Main nach Auschwitz deportiert wurde. Laut einem Schreiben der Lagerkommandantur am 19.10.1943 ist sie dort „an den Folgen von allgemeiner Körperschwäche im hiesigen Krankenhaus gestorben“. Bertha Röder gehört zur Gruppe von Opfern jüdischer Herkunft, die im Buch am zahlreichsten aufgeführt sind (bearbeitet von Angelika Rieber), neben den Lebensbildern von Opfern der NS-„Euthanasie“ und einer Darstellung zu einem Opfer politischer Verfolgung. In der Regel wird ein Einzelschicksal auf einer bebilderten Doppelseite vorgestellt, aber auch die Schicksale ganzer Familien oder Ehepaare, die dem Holocaust ganz oder teilweise zum Opfer fielen, sind nachzulesen. Die Kurzbiographien machen die Verfolgung durch den NS zum Hauptpunkt, binden ihn jedoch ein in den Lebensweg der Menschen. Dadurch wird der Zivilisationsbruch deutlich, den der Nationalsozialismus bedeutet hat. Warum wurden Menschen ausgegrenzt, verschleppt und ermordet,  die selbstverständlich mit ihren Familien gelebt hatten und im gesellschaftlichen Umfeld anerkannt waren, nicht wenige seit Jahrzehnten? Wie konnte Hitlers rassistischer Hass zu bürokratisch umgesetzter allgemeiner Politik werden? Diese Fragen schweben über den Seiten des Buches, und mit jedem neuen Einzelschicksal aus Oberursel oder dem Kontext der Stadt tauchen sie von neuem auf.

Der Leser erfährt auch von Zufällen, die in Zeiten der NS-Diktatur über Leben und Tod entscheiden konnten. Regional verschieden wurde gegen sogenannte „Mischehen“ vorgegangen, in denen einer der Partner jüdischen oder ehemaligen jüdischen Glaubens gewesen war. (Die Konversion interessierte die NS-Behörden bei den Verfolgungen nicht. Im „Gau Frankfurt“, zu dem Oberursel gehörte, waren die zerstörerischen Maßnahmen von besonderem ideologischem Fanatismus und entsprechender Gewalt geprägt.) Wem gelang noch rechtzeitig die Flucht ins Ausland? Wer musste auf sie verzichten aus finanziellen oder anderen Gründen? Durch welchen Zufall wurde eine Krankmeldung überraschenderweise akzeptiert, um der Abordnung zum „Arbeitseinsatz“ zu entgehen? Wer fand in der Endphase des Krieges hilfreiche Menschen, bei denen er untertauchen konnte, um der Deportation in ein Konzentrationslager zu entkommen? Wer wurde auch noch mit dem letzten Transport, den die Nazis organisieren konnten, verschleppt? Was an Fällen aus Oberursel aufgezeigt wird, spiegelt Phänomene im gesamten Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus wider. Es ist ein Verdienst des Buches von Angelika Rieber und Eberhard Laeuen, dass sie den Holocaust am regionalen Beispiel sichtbar machen, der mit der Millionenzahl der Opfer als kaum noch fassbare Monstrosität des Grauens erscheint.

Das Buch stellt „keinen Abschluss des Themas“ dar, „sondern einen wichtigen Etappenschritt“ (S. 9). Dies verdeutlicht auch die Doppelseite 92/93 über das KPD-Mitglied Jakob Rexroth (Jg. 1884), der unter dem Vorwurf des „Hochverrats“ am 17. Januar 1937 verhaftet und in das Untersuchungsgefängnis Frankfurt-Preungesheim eingeliefert wurde; am 31. Januar 1937 „war der Oberurseler tot“ (S. 92). Jakob Rexroths Schicksal steht für viele andere KPD-Mitglieder, die im Nationalsozialismus einen hohen Blutzoll entrichten mussten. In der späteren Bundesrepublik wurde die KPD im Jahr 1956 verboten. Der ideologische Vorbehalt gegen die Partei trug entscheidend dazu bei, dass der Widerstand der KPD gegen das NS-Regime nur zögerlich rezipiert wurde, im Gegensatz zum bürgerlichen, militärischen oder studentischen Widerstand. Im Abschnitt über Jakob Rexroth werden noch vier weitere KPD-Mitglieder aus Oberursel genannt, die im Jahr 1937 mit konstruierten Vorwürfen zu Gefängnisstrafen und fünfjährigem „Ehrverlust“ bestraft wurden. Die politisch Verfolgten in Oberursel können zum Inhalt der weiteren Forschungsarbeit vor Ort werden.

Eberhard Laeuen hat das Kapitel über die NS-„Euthanasie“-Opfer bearbeitet, von denen bisher 23 namentlich bekannt sind und einen Bezug zu Oberursel haben. In einer Einleitung erläutert der Verfasser die historischen Hintergründe und Bezüge zum Holocaust, als das „Töten durch Gas“ an Psychiatrie-Patienten zum „Probelauf“ für die Vernichtungslager gemacht wurde. Die ganze Perfidie des NS-Regimes wird auch an dieser Opfergruppe deutlich. Wie rasch man „wg. staatsfeindlicher Äußerungen“ in „Schutzhaft“ und von dort wegen „Geisteskrankheit“, die ein Lagerarzt kurzerhand konstatierte, in „Heilanstalten“ eingewiesen werden konnte, zeigt das Beispiel der Emilie W. (Jg. 1900), die am 17. Mai 1944 „in Hadamar an den Folgen der Anstaltsunterbringung“ (S. 111) verstarb. Mit der Lebensbeschreibung der Emilie W. schließt das verdienstvolle Buch. Im Anhang befindet sich ein Quellen- und Literaturverzeichnis.

(Erstveröffentlichung: informationen. Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933-1945, Nr. 85, Juni 2017, 42. Jg., S. 37 f.)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.