AM FENSTER


AM FENSTER

 

Das Haus war von luxuriöser Größe, so dass die beiden sich erst zurechtfinden mussten und zuweilen der Mann die Frau oder die Frau den Mann regelrecht suchten.

Sowohl diese geräumige Beschaffenheit als auch die komfortable Einrichtung leisteten ihren Beitrag zum erhofften Abstand von Arbeit und Pflicht, alltäglichen Erfordernissen und dem gewohnten Tagesrhythmus.

Die Eigentümerin, eine hochbetagte Frau, deren Mann, ein passionierter Jäger, vor einigen Jahren gestorben war, lebte in einer Seniorenwohnanlage für Wohlhabende, welche sich in der nicht weit entfernten Kreisstadt befand. Sie wollte, obgleich ihr gesundheitlicher Zustand eine Rückkehr mit Sicherheit ausschloss, das Haus auf keinen Fall verkaufen und konnte sich dieses Ansinnen trotz der beachtlichen Kosten für Unterkunft und Pflege finanziell leisten. In dem Anwesen, das ihr gehörte, hatte sie mehrere Jahrzehnte mit ihrer Familie gelebt. Alles – das war ihr eiserner Wunsch – sollte bis zu ihrem Tode so bleiben, wie es ihr lange Zeit vertraut war: die Aufteilung der Räumlichkeiten, der parkähnliche Garten, die alten Stilmöbel – nichts durfte verändert werden.

Zu diesem Zwecke hatte sie einer befreundeten Nachbarin Generalvollmacht erteilt, so dass diese das Haus zeitweise, aber eben nur an Urlauber, vermieten konnte und auch alle übrigen pekuniären Angelegenheiten der alten Dame regelte.

Unsere beiden Feriengäste nun, der Mann und die Frau, traten also in eine gleichsam private Welt ein, die nichts von der häufig anzutreffenden Schlichtheit und Zweckmäßigkeit von Unterkünften für Reisende besaß. Hier fühlten sie sich von Anfang an wohl. Gleich am Ankunftstag verbrachten sie mehrere Stunden auf der windgeschützten Terrasse, von der aus sie in den weitläufigen, gepflegten Garten schauen konnten.

Der Ort, umgeben von Weinbergen, die an waldige Höhen grenzten, strahlte eine angenehme Ruhe aus, und das sommerliche Wetter trug das Seine zur

ausgeglichenen, heiteren Stimmung der beiden bei. Von den in angemessener Entfernung stehenden Nachbarhäusern war kaum etwas zu hören. Manche Bewohner mochten ihrerseits andernorts im Urlaub weilen.

Unbeschwert bei einem Glas Wein auf der Terrasse sitzend, entdeckte der Mann, in der ersten Etage eines gegenüberliegenden Hauses eine junge Frau, die herüberschaute. Dieser Umstand wäre an sich nicht erwähnenswert. Der Mann aber fühlte sich nun einmal nicht gerne beobachtet und wurde, als das fremde Gesicht einfach nicht verschwand, ein wenig unruhig. Die Frau hingegen nahm die Sache von Beginn an leicht, scherzte und erklärte, die besagte Person fände ihn vielleicht attraktiv und er sollte doch, wenn ihn das Anhimmeln störte, die herrlichen Bäume und prächtigen Büsche auf der anderen Seite des Gartens betrachten.

Das tat er denn auch – nur ab und zu richtete er, gewissermaßen heimlich, den Blick hinüber: dort saß oder stand, das ließ sich nicht entscheiden, die Späherin unverändert am Fenster und schaute ihn an.

Am nächsten Morgen frühstückten die beiden nach erquickender Nachtruhe bei Sonnenschein im Freien. Der ärgerliche Umstand vom Tag zuvor war vergessen, die Urlaubsstimmung bestens. Da bemerkte der Mann, eher aus Zufall denn absichtlich, erneut die Nachbarin. Sie blickte wieder vom Fenster aus herüber, und das Seltsame war, sie tat es in der gleichen Position – so, als habe sie ohne Unterbrechung die ganze Zeit über geschaut, geschaut, geschaut. Missmut flackerte in dem Mann auf, der noch wuchs, als seine Frau der Sache auch diesmal keinerlei Bedeutung beimaß.

Nach ausgiebigem Spaziergang durch die Weinberge und Besuch einer Winzerstube ging der Mann gleich auf die Terrasse, um sich zu vergewissern, dass die Nachbarsfrau endlich verschwunden sei. Das aber war nicht der Fall. Ihre Augen richtete sie auf ihn, ohne an ihrer Kopfhaltung irgendetwas verändert zu haben. Wie war das möglich?, fragte sich der Mann.

Seine Frau, die längst überzeugt war, dass es sich lediglich um einen künstlerisch gestalteten Kopf handeln konnte, lachte erneut über das mulmige Gefühl ihres Mannes, teilte ihm auch mit, was sie fest glaubte. Eine Zeitlang beruhigte ihn diese Reaktion. Doch als das nachbarliche Gesicht Tag um Tag am Fenster verharrte, wollte sich der Mann die Urlaubslaune nicht länger verderben lassen und verfolgte einen Plan, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Die Generalbevollmächtigte hatte ja eingangs beiläufig die Passion des einstigen Hausherrn erwähnt. Unter einem Vorwand durchsuchte der Mann die Räume, in denen sich glücklicherweise das vollständige Inventar vergangener Zeiten befand. Doch zu seinem Groll fand er nicht, was er suchte. Er wollte schon die Hoffnung aufgeben. Da entsann er sich, dass die Vermieterin sie auf einen einzigen abgeschlossenen Raum hingewiesen hatte, in welchem, wie sie erklärt hatte, einige persönliche Dinge der Besitzerin untergebracht seien. Vielleicht würde er darin fündig werden. Wie aber sollte er in das verschlossene Zimmer gelangen? Nachdem er mehrere Schubladen ergebnislos durchsucht hatte, fiel ihm eine hölzerne Anglerfigur ins Auge, die aus zwei Teilen bestand. Vorsichtig hob er den Oberkörper ab und entdeckte einen Schlüssel, der ihm tatsächlich den Zutritt zu dem gewissen Raum ermöglichte. Beim Betreten fiel sein Blick sogleich auf einen Schrank. Um ihn öffnen zu können, musste er sich allerdings etwas einfallen lassen. In der Erwartung, seinem Ziel ganz nahe zu sein, erbrach er kurzer Hand mit dem Jagdmesser, welches er in einer kleinen Truhe entdeckte, das Schloss.

Wenig später – die Urlauberin, welche leidenschaftlich gerne las, war gerade auf der Terrasse in ein Buch vertieft – fiel in der Stille des Gartens und der Ortschaft der erlösende Schuss.

 

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