Am Ende des Tages
Man wolle ihm den im Frühjahr anstehenden Wahlkampf nicht mehr zumuten, hatten sie ihm erklärt. Er hatte sie reden lassen, er hatte verstanden, was sie meinten, und als sie geendet hatten und ihn ansahen, als wüssten sie nun nicht mehr weiter, da hatte er ihnen seinen Rücktritt angeboten. Wahlen waren nur mit gesunden ehrgeizigen Leuten zu gewinnen, viele Jahre zuvor auch sein Satz.
Der Staatsekretär wandte sich der Treppe zu. Ohne die geringste Anstrengung zu verspüren, ging er die fünf Stockwerke hinauf zu seinem Büro. Niemand begegnete ihm, niemand sah, welche Kraft noch in ihm steckte.
Oben angekommen, betrat er das Zimmer seiner Sekretärin. Sie hatte bereits die schwarze Tasche erhalten und ihren Inhalt gewissenhaft in mehrere kleine Stapel sortiert. Der Bote des Hauses würde sie später denjenigen übergeben, für die sie bestimmt waren. Kurz überlegte der Staatsekretär, was wohl aus seinen Anmerkungen, Notizen und Streichungen werden würde, ob man sie überhaupt noch befolgte, wischte dann aber diese Gedanken schnell beiseite. Der Gewohnheit folgend fragte er, was sein Terminkalender für den Tag vorsehe.
Seine Sekretärin war wie immer gut vorbereitet, sie erklärte ihm alles.
„Ich danke Ihnen“, sagte der Staatssekretär.
„Wofür?“ fragte seine Sekretärin erstaunt.
„Für alles.“
Im Nachhall kam ihm seine Antwort banal vor. In Gedanken versuchte er sie deshalb zu präzisieren, merkte aber gleich, dass er Gefahr lief, sich in einer Wortfülle zu verlieren, die keinen von ihnen beiden weiterbringen würde, und weil eine jahrelang gelebte Disziplin ihm sagte, dass seine Zeit kostbar und nicht zum Verschwenden unnützer Gedanken da war, obendrein auch alles gesagt war, was es zu sagen gab, ging er in sein Büro.
Auf seinem Schreibtisch lagen mehrere Unterschriftsmappen, und obwohl er wusste, dass die Mappen nur enthielten, was an diesem Tag noch erledigt werden musste, was also noch seine Unterschrift tragen sollte, wirkte der vertraute Anblick beruhigend auf ihn. Dieser Eindruck setzte sich fort, als seine Sekretärin ihm den morgendlichen Tee brachte, wie sie das immer tat, doch als sie wieder ging und die Tür zwischen seinem und ihrem Büro schloss, spürte er ein Bedauern und eine Art von Einsamkeit, die ihn erschreckte.
Sein Blick fiel auf das Gemälde, das seinem Schreibtisch vis-a-vis an der Wand hing. Es stammte von einem dieser namenlosen Künstler, die er in all den Jahren seiner Amtszeit gefördert hatte. Der Surrealismus wies etwas Kindliches auf, bunte Striche, in denen sich Fenster und kirchenähnliche Portale versteckten, die den Blick des Betrachters einfingen, dann aber in ein schwarzes Nichts führten. Es ist das Kunstwerk eines kindlichen Philosophen, dachte der Staatssekretär, und er fragte sich, wie viele Menschen durch ihn in einem schwarzen Nichts gelandet waren, nicht vorsätzlich, eher gedankenlos. Er beschloss, das Gemälde mit nach Hause zu nehmen als Merkposten für die Irrtümer seines Lebens.
Vor zwei Tagen hatte ihn so ein Grünschnabel von Journalist gefragt, ob er, wenn er zurückblicke, zufrieden mit sich sei.
„Jeder Tag hat seine eigene Dramaturgie und neue Gestaltungsmöglichkeiten. Sollte nicht allein das einen schon zufrieden machen?“, hatte er geantwortet.
Natürlich hatte sich der Journalist mit dieser Antwort nicht zufrieden gegeben. Interviews drehten sich oft im Kreis. Sie bedienten Eitelkeiten auf beiden Seiten, und wenn man nicht mitspielte, konnten sie zu einer Gefahr werden. Man musste das Spiel mitspielen, die Meute bei Laune halten, nur so gewann man sie als Verbündete, konnte voranzubringen, was einem am Herzen lag, dieser Preis, hatte er immer gedacht, war gerechtfertigt.
Vor seiner Bürotür hörte der Staatsekretär ein hastiges Gemurmel, wie es für gewöhnlich von Leuten kam, die letzte Absprachen untereinander trafen, um einem Anliegen zu größerer Wirksamkeit zu verhelfen. Man maß der Macht zu viel Bedeutung bei, selbst an einem Tag, an dem die Macht in den Ruhestand ging, dachte er bei sich und seufzte leise.
Die Tür ging auf, seine Sekretärin streckte ihren Kopf herein. „Sie sind alle gekommen, um sich von Ihnen zu verabschieden. Sind Sie bereit?“, sagte sie sanft.
„Haben Sie Ihnen nicht gesagt, dass ich keinen Abschied will?“
„Da war nichts zu machen“, entgegnete sie achselzuckend.
Der Staatsekretär lächelte etwas gezwungen. Etwas ratlos sah er dabei zu, wie sich sein Zimmer im Handumdrehen mit einer größeren Menschenmenge füllte. Mit einigen hatte er oft und eng zusammengearbeitet, andere hingegen kannte er nur vom Sehen, manche von denen, die sich um seinen Schreibtisch drängten, kannte er überhaupt nicht.
„Was werden Sie tun, morgen früh, sobald Sie wach werden?“, fragte einer aus der Gruppe, etwas Vorlaut, wie der Staatssekretär bei sich registrierte.
„Ich werde aufstehen und mich ans Fenster stellen, wie jeden Morgen. Vor ein paar Tagen haben zwei Eichelhäher damit begonnen, im Garten ein Nest zu bauen. Ich beobachte ihre Fortschritte, das Pärchen ist emsig bei der Sache“, antwortete er.
„Was werden Sie am meisten vermissen, wenn Sie heute Abend nach Hause gehen?“
„Ich frage mich gerade, ob ich nicht eher etwas gewinne.“
„Aber wie ist es, wenn Sie morgen früh aufstehen und feststellen, dass keine Unterschrift mehr auf Sie wartet, keine Rücksprachen, keine Besuchertermine, wenn Sie also nichts mehr zu entscheiden haben? Werden Sie all dem, was gewesen ist, nicht doch nachtrauern?“
Der Staatssekretär betrachtete aufmerksam das ihm unbekannte junge Gesicht. Es sah dem des jungen Mannes, der am Morgen seinen Wagen zum Stehen gebracht hatte, nicht unähnlich.
„Ich werde meinen Fahrer vermissen“, antwortete der Staatssekretär. „Ich kann nämlich nicht Autofahren.“
Auf diese und ähnliche Weise unterhielt er sich eine Weile mit den Leuten, dann gingen sie wieder an ihre Arbeit zurück, und er wusste, sie würden anfangen, ihn zu vergessen. Er nahm das Gemälde von der Wand, betrachtete den Abdruck, den es hinterließ, er berührte ein letztes Mal die hässliche, schwarze Aktentasche, strich kurz über die Notizen und Verfügungen, die fein säuberlich geordnet auf seinem Schreibtisch lagen, dann verließ er sein Büro.
Im Foyer ging er an der Orientierungstafel für Besucher vorbei, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, er wusste auch so, sein Name war zwischenzeitlich bereits durch den seines Nachfolgers ersetzt worden.