Am Ende des Tages, Teil 1


Am Ende des Tages

© Brigitta Dewald-Koch 2017

 

Gerade wollte der Staatssekretär dem Konzept einer Ausstellung, die, anlog einer Peep Schow, das Sich-zur-Schau-Stellen an sich zu reflektieren beabsichtigte, seine Zustimmung erteilen, da kam sein Wagen abrupt zum Stehen und anstelle des zustimmenden Namenskürzels zog sich ein kräftiger roter Strich quer über das auf seinen Knien ruhende Dokument. Aus der Zustimmung war eine Ablehnung geworden.

„So ein Idiot“, schimpfte der Fahrer.

Der Staatsekretär hob seinen Blick, und nun sah auch er den jungen Mann, der soeben die Straße überquert, den Wagen abrupt zum Halten gebracht und damit dem Konzept einer ungewöhnlichen Ausstellung ein vorläufiges Aus beschert hatte.

„Vielleicht ist er etwas spät dran, vielleicht wird er dringend erwartet“, bemerkte der Staatssekretär.

„Die Jugend hat es immer eilig“, erwiderte der Fahrer mürrisch.

Der Staatssekretär nickte nachdenklich. Er sah dem Davoneilenden nach; alles an ihm wirkte wie in Aufruhr: sein Mantel, der bei jeder Bewegung auseinanderflog, seine ausholenden Schritte, das ruckartige Heben und Senken des Kopfes, die seltsam anmutenden übergroßen Kopfhörer auf den Ohren. Nur die Hände hielt der Mann in einer beinahe kindlich trotzigen Geste in seinen Manteltaschen verborgen.

Wie der Staatssekretär dem anderen so nachsah, meinte er, diesen schon einmal gesehen zu haben, nur wollte ihm nicht einfallen wo, bei welchem Anlass.

In Augenblicken wie diesen, wenn er spürte, dass er nicht mehr wie früher Herr seiner Erinnerungskraft war, wurde er schnell nervös, und er schloss die Augen. Eine Angewohnheit der letzten Monate, mit der er nach außen hin ein konzentriertes Nachdenken vorschützte, tatsächlich aber war es der Versuch, die Angst, alles könnte noch schlimmer kommen, irgendwie in den Griff zu bekommen. Er versuchte an seinen Garten zu denken, an den dort beginnenden Frühling, und wurde ruhiger. Als er die Augen wieder öffnete, sah er sich leicht irritiert um. „Warum halten wir denn noch?“, fragt er.

Der Fahrer warf einen schnellen Blick in den Rückspiegel, legte gleichzeitig den Gang ein, ließ sachte die Kupplung kommen, so dass der Wagen wieder anrollte. Wenig später hielt der Wagen erneut, diesmal vor dem Hauptportal des Gebäudes, in dem sich der Dienstsitz des Staatssekretärs befand.

„Unser beider Rollen sind festgelegt“, hatte der Staatssekretär seinerzeit gesagt, als der Fahrer in seine Dienste trat. „Sie fahren, und ich arbeite. Und bitte, keine Vertraulichkeiten.“

Das war vor zehn Jahren.

Anfangs hatte sich der Fahrer streng an die vorgegebene Rollenaufteilung gehalten, doch eines Tages, während einer längeren gemeinsamen  Fahrt und getrieben von der Sorge, dass sein Lieblingsverein aus der ersten Bundesliga absteigen sollte, hatte der Fahrer zum ersten Mal gegenüber dem Staatssekretär über Fußball gesprochen.

„Mir scheint“, hatte der Staatssekretär gesagt, nachdem er sein Aktenstudium unterbrochen und eine Weile zugehört hatte, was Sie da über den Fußball berichten, gilt ebenso auch für die Politik. Auch hier gibt es Spieler unterschiedlicher Qualitäten, Vorstände und Trainer mit und ohne Talent, selbst die Eitelkeiten scheinen mir vergleichbar, nur die Fangemeinde, meine ich, ist im politischen Raum weniger berechenbar.“

Von diesem Tag an plauderten sie gelegentlich miteinander über Fußball, bald aber auch über andere Dinge, privatere, doch immer in der für beide Seiten gebotenen Zurückhaltung und Verschwiegenheit.

„Chef, da wären wir mal wieder“, sagte der Fahrer leise und stellte den Motor ab. Er zog den Zündschlüssel, sah in den Rückspiegel, auf die in sich zusammengesunkene Gestalt auf dem Rücksitz des Wagens. In der letzten Zeit schlief der Staatsekretär immer öfter über seiner Arbeit ein. Er sei zu alt für seinen Job, sein Verstand längst nicht mehr von der Brillanz früherer Jahre, tuschelte man längst im Haus.

„Ich habe es bemerkt“, entgegnete der Staatsekretär.

Er sammelte die Dokumente, Zettel, Petitionen und Entwürfe amtlicher Antwortschreiben, die er mit roten Einfügungen, Nachfragen und willentlichen Streichungen – sowie einer unwillentlichen – versehen hatte, steckte alles in die schwarze Ledertasche, die ihm der Vorstand seiner Partei an dem Tag geschenkt hatte, an dem er zum Staatssekretär ernannt worden war. Obwohl die Aktentasche weder damals noch heute seinen ästhetischen Ansprüchen standhielt, benutzte er sie bis heute, weil er darin eine  Verpflichtung sah, eine Verpflichtung, der er sich unterzuordnen hatte.

Der Staatsekretär reichte die Tasche nach vorn, damit sie der Fahrer übernahm, dann kletterte er umständlich aus dem Wagen. Er schwankte ein wenig, als er den festen Boden unter sich spürte, auch das war neu. Er steckte das Arbeiten während der Fahrt nicht mehr so weg wie früher.

Wie um sich zur Ordnung zu rufen,  den Schwächen, die er neuerdings an sich wahrnahm, nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken, strich er energisch seine Kleidung glatt und wandte sich dann mit einem aufrechten Gang, der früher einmal leicht und federn gewesen war, jetzt jedoch ein wenig zwanghaft auf Beobachter wirken musste, dem Eingang seines Amtssitzes zu.

Im Foyer blieb der Staatsekretär vor der Orientierungstafel für Besucher stehen. Mit der gleichen Aufmerksamkeit wie damals, als er mit knapp achtundvierzig Jahren zum Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten berufen worden war, las er auch jetzt seinen Namen. Seinerzeit hatte er ein starkes Herzklopfen beim Lesen verspürt, ebenso eine tiefe Freude gegenüber der neuen Herausforderung, der er sich mit all seiner Kraft, seinem Ideenreichtum, seinem Elan, stellen wollte. Heute fühlte er beim Lesen nichts außer einer gewissen Müdigkeit. Seit seinem Dienstantritt hatten sich Tafel und Schriftform mehrfach geändert, alles war moderner und teurer geworden, auch eine Eitelkeit, die niemandem nützte, die er aber gebilligt hatte.

In der letzten Zeit waren ihm in der Ausübung seiner Amtsgeschäfte Fehler unterlaufen, nichts, was dramatische Folgen gehabt hätte, aber doch so, dass er sich Merkzettel zulegte, und wenn er die kleinen weißen Zettel seiner Sakkotasche entnahm, um etwas nachzulesen oder sich Dinge zu notieren, die er andernfalls zu vergessen befürchtete, hatte er gesehen, welche Irritationen er damit bei seinen Besuchern auslöste. In der Zeitung hatte gestanden: er trete aus gesundheitlichen Gründen zurück. Dieser Satz hatte ihn am meisten geschmerzt.

Sie waren zu dritt gekommen, um ihm zu sagen, wie sehr sie sich um seine Gesundheit sorgten. Ihre Gesichter wirkten heuchlerisch; er hatte in all den Jahren seines Berufslebens alle Facetten eines Gesichtsausdrucks studieren können, nie aber sein Gegenüber mit seinen Beobachtungen konfrontiert, nur mit seinen Entscheidungen.

Fortsetzung folgt

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