Allegorien — der Tod, Teil II
04.04.2024
Doch dann besann sich der Tod erneut seines Zuhörers und setzte seine Lektion fort.
„Wenden wir uns nun euren Bildern, Namen und Kulten zu, die ihr mir als „Tod“ im Laufe eurer Entwicklungs-Geschichte gegeben habt…—
In der Frühzeit der Mensch-Werdung, lange nach Danuvius guggenmosi, homo habilis, homo erectus, irgendwo im Zeit-Horizont des homo heidelbergensis und des homo neanderthalensis, also vor ca. 600.000 bis 200.000 Jahren, da erfand der Mensch sich nicht nur Werkzeuge und den Gebrauch des Feuers, sondern er sprängte den innerweltlichen Horizont der ihn umgebenden Natur auf; dieses den Menschen übermächtig bestimmende Andere. Er machte dies, indem er Schritt um Schritt seinen natürlichen Lebens-Raum in Richtung auf geistig-geistliche Vorstellungs-Welten erweiterte. Er erfand sich, wenn man so sagen möchte, einen unabschließbaren, offenen Horizont im geistigen Bereich. Waren seine Vorfahren noch als Vierfüßler durch die Savannen getrabt, so richtete sich der homo erectus auf, übte den „aufrechten Gang“ und nahm damit seine Umwelt in einem völlig neuen Blick-Winkel wahr. Sein Sehfeld weitete und schärfte sich und sein Gesichtskreis bekam sowohl einen optischen als auch einen geistigen Horizont . Und ohne sich dessen bereits bewusst zu werden, fing der frühe Mensch an, die ihn umgebende Realität zu gliedern und damit ein übermächtiges Ganzes in kleinere, quasi Hand-habbare und für ihn verfügbare Teile zu zerlegen. Und was von den ersten „hominini“-Arten nur erlebt oder erlitten werden konnte — etwa die Freude bei einer Geburt oder das Glück nach einer gelungenen Jagd, die Ahnung um Krankheit, Schmerz, Leiden, und Tod, oder aber das begrenzte Staunen angesichts sichtbarer Phänomene wie Tag und Nacht, das bestirnte Firmament, den Wandel der Jahreszeiten, das Erdulden der Unbill eines Gewitters oder Schneesturms, u.v.ä.m. — all das wurde durch den „homo sapiens“ fortan gedeutet und mit Sinn erfüllt . Die gesamte physische Welt wurde in einen Horizont der überweltlichen Wirklichkeiten und Mächte erweitert. Aber nicht nur die Außen-Welt, auch die Innen-Welt der Menschen erfuhr diesen deutenden Sinn… In diesen fernen Tagen der Mensch-Werdung erfand sich die Immanenz in Gestalt des Menschen eine Transzendenz der Mächte in Gestalt von „Gottes“-Bildern , „Gottes“-Namen , in späteren Jahrtausenden sodann eine Vielzahl komplexer werdender, vielschichtiger, kulturell gebundener „Gottes“-Begriffe . Das Dasein der Natur erhielt einen transparenten und transzendenten Sinn, der wie der Lauf der Sonne alles Leben erhellte und wie der gestirnte Himmel alles Dasein überwölbte und zu einem mehr und mehr geordneten Ganzen harmonisch zusammenfügte. Seit diesen archaischen Vorstellungs-Welten korrespondiert Physis mit Meta-Physis; Stoffliches mit Geistigem und Spirituellem; die konkrete Welt des Daseins mit einer Geistes-Welt des Seins. Folgerichtig erschien diesen ersten Menschen fortan alles Dasein als „beseelt“. Im Gegenzug wurde jedoch der Mensch selbst als sterblicher Körper und unsterbliche Seele erachtet… Alles Deuten hat seinen Preis… Aber: Es war die erste Stunde einer heraufziehenden „Götter“-Dämmerung, in deren Zentrum der geistig-schöpferische Mensch als „Licht der Welt“ stand, und der sich kontinuierlich neue Bilder, neue Gestalten, neue Quasi-Persönlichkeiten für erahnte Wirklichkeiten und gefürchtete Mächte erfand. Und, wenn man so sagen möchte, war dies ja auch meine eigene Geburtsstunde im Raum des bewusst-werdenden Menschen. Dieses Bewusst-Werden hatte zwei grundverschiedene Richtungen: zum einen auf die Natur als „Welt“ sowie die darin verborgenen „Mächte“ als unsichtbare Wirklichkeiten gerichtet; zum anderen war diese Bewusst-Werdung aber auch reflexiv, d.h. der Mensch wurde sich selbst seiner selbst nach und nach als Lebe-Wesen, als Person und als Individuum bewusst, das sich sowohl von der Natur als auch von seinen Sippenmitgliedern unterschied… War ich für die Vorfahren des homo sapiens nicht viel mehr als nur eine Art lebloser, kalter Schlaf, — sozusagen ein Einschlafen ohne nachfolgendes Aufwachen —, so wurde ich seit den frühen Stunden des homo sapiens durch diesen zu einer allgegenwärtigen, geheimnisvollen Macht ausgestaltet und ständig weiter ausgedeutet. Allein, was immer der Mensch in mich hinein-gedeutet oder aber heraus-fabuliert hat: in meiner wesentlichen Unfassbarkeit bleibe ich dem Menschen bis heute unendlich rätselhaft, fragwürdig und damit auch zugleich bedrohlich, beängstigend, unheimlich, ein Un-Geheuer…
Um es paradoxal zu formulieren: Erst durch das aufkeimende Bewusstsein des homo sapiens war der Tod als Tod geboren worden; er hatte in der Geistes-Welt der Menschen Gestalt an- und seinen festen Platz eingenommen. Von nun an war er bewusst in den Vorstellungen der ersten Menschen eingepflanzt, und diese mussten eine Antwort auf die doppelte Frage finden: „Wie verhalte ich mich zu meinem Leben und wie stehe ich zu meinem je eigenen Tod…—?“ Als gangbaren Ausweg aus der Aporie versuchten die Menschen fortan mich, den Tod, in Bildern, Namen und Begriffen zu fassen, zu distanzieren, mich mit Ritualen zu besänftigen oder aber mit Magie zu bannen. Mich , eine Bild-, Gestalt- und an sich Namen-lose Wirklichkeit…— Einen anderen Ausweg erfand sich der Mensch vor einigen tausend Jahren sodann in seinem philosophischen Denken sowie seinem theologischen Glauben: er gliederte das menschliche Leben in einen sterblichen Körper, mit der Götter-Gabe einer unsterblichen Seele. Allein, auch dieser Dualismus vertrieb nicht die Todes-Angst aus euren Seelen…“
Der Tod schaute en passant zu seinem Zuhörer hinüber, der seinen Ausführungen interessiert zu folgen schien. Er nahm das Interesse des Menschen wohlwollend zur Kenntnis und fuhr in seinem Vortrag fort.
„Gehen wir in unseren Betrachtungen nochmals ein Stück des Menschen-Weges zurück. Es waren wohl die Neandertaler, die als erste Menschen-Art ihre verstorbenen Sippenmitglieder nicht nur in der Erde verscharrten, damit sie wilden Tieren nicht als Fraß dienen konnten, sondern ihre Verstorbenen meist in Höhlen rituell bestatteten . Als eine der ersten Kulthandlungen war der Totenkult des Menschen geboren. Der Mensch war als erstes Tier sich selbst seiner eigenen Sterblichkeit bewusst geworden, und er ehrte seine Verstorbenen mit Bestattungs-Ritualen. Totenkult und Ahnenkult des Menschen gingen zukünftig in allen Kulturen Hand in Hand. Die respektvolle Achtung bzw. ehrfurchtsvolle Huldigung der Lebenden fand ihre Entsprechung im Gedenken der Verstorbenen, der Ahnen. Der rituelle Gedanken-Kreis der „Pietät“ war als Samenkorn gelegt worden.“
„Wann war denn das?“, wollte sein Zuhörer interessiert wissen.
„Genau kann ich’s auch nicht mehr sagen“, erwiderte der Tod, „ich hatte ja zu dieser Zeit bereits aus hunderten von Millionen Jahren unterschiedliches Leben und Sterben in Empfang genommen. Es mag wohl zwischen 140.000 und 40.000 Jahre vor eurer Zeitrechnung gewesen sein, denn danach war der Neandertaler ausgestorben bzw. im „modernen Menschen“, dem homo sapiens, aufgegangen. Allerdings erhielt der Begriff der Pietät später in den asiatischen Kulturen, wie etwa dem Konfuzianismus, zentrale Bedeutung, da er von Kung-tse zum staatstragenden Element erhoben wurde. Bekannter dürfte jedoch der Ahnenkult der Pharaonen im Alten Ägypten sein. Schließlich kennt doch jeder die „Cheops-Pyramiden“ von Gizeh. Weniger bekannt dürften indes die vielschichtigen Verflechtungen dieser Religion mit der realen Staats-Macht einerseits sowie dem Totenreich andererseits sein. Ein Pharao starb nicht einen gewöhnlichen Tod — er lebte und regierte nach seinem „Himmelsaufstieg“, so der altägyptische Glaube, im „Lichtland“ weiter, d.h. als „Sohn des Re“ nahm er auch nach seinem Tode unmittelbar am Schicksal Ägyptens teil. Der Pharao war im Leben Mittler zwischen diversen Göttern und irdischem Reich; und nach seinem Tode, wenn man so sagen möchte, der „göttliche Procurator“ für das Wohlergehen des Altägyptischen Reiches. Aber das nur en passant…
Doch weiter. Gehen wir etwas tiefer ins Detail. Als der homo sapiens die Bühne des Welten-Theaters betrat — eure Wissenschaftler datieren erste fossile Funde auf ca. 300.000 Jahre vor eurer heutigen Zeitrechnung — da begann diese Spezies nach und nach die unfassbaren Wirklichkeiten, die „Mächte“, stets detailreicher auszugestalten. Zunächst mit naturalistischen Höhlenmalereien, mit ersten Reliefs, mit anderen Artefakten. So etwa die detailgetreuen Jagdszenen in europäischen Höhlen, die sie umgebende Tierwelt auf afrikanischen Felsen, ihre kulturellen „Traumpfade“ auf australischen Felsen, und andere Frühkulturen verliehen uns Mächten auf andere Art und Weise bildhafte Gestalt und Referenz — all dies, auf dass ihnen das Jagdglück, und damit ihr Überleben, erhalten bliebe. Die meisten europäischen Höhlenmalereien befinden sich im Zeit-Horizont des Jungpaläolithikums bis zum Holozän, sie sind also vor ca. 45.000 bis 11.700 Jahren entstanden.“
„Woher wissen Sie das alles?!“, fragte sein Zuhörer, nun sichtlich interessiert und in den Bann des Vortrages gezogen.
„Nun, ich war ja überall dabei gewesen — wenn auch für den Menschen unerkannt und beredt schweigend…
Doch weiter! Für ihre Fruchtbarkeit gestalteten die ersten „modernen Menschen“ weibliche Figurinen aus Elfenbein, gebranntem Ton, seltener aus Knochen oder sie gravierten Halbreliefs in weiches Gestein, etwa in Gestalt einer überproportionierten Stammesmutter. Denke etwa an die sog. „Venus von Willendorf“ und ähnliche Darstellungen, deren Alter auf ca. 27.000 Jahre vor Christus datiert wird. In einer französischen Höhle, Laussel in der Dordogne, fand man Halbreliefs von vier Frauen zusammen mit der Darstellung einer ithyphallischen Person. Sie entstanden wohl vor ca. 25.000 Jahren — womöglich eine der ersten menschlichen Fruchtbarkeitsdarstellungen bgzl. Zeugung und Geburt.
Während Frauen in dieser frühen Zeit der Mensch-Werdung mit übergroßen weiblichen Attributen dargestellt wurden — schließlich sind sie bis heute eure Lebens-Spenderinnen — wurden Männer in der Regel mit ihren Jagdwaffen dargestellt, da sie in diesen alten Jäger-Kulturen mit unterschiedlichen Jagdmethoden vorwiegend für den Lebensunterhalt der Sippen sorgten. Und bereits damals erfand sich der Mensch auch Misch- und Fabelwesen wie etwa den „Löwenmenschen vom Lonetal“ auf der Schwäbischen Alb. Das Alter dieser Figur aus Elfenbein wird auf ca. 41.000 bis 35.000 Jahre datiert. Vielleicht soll sie einen Schamanen darstellen, also einen Menschen, der in Trance Kontakt mit uns Mächten aufnehmen konnte…
Männliche Zeugung und weibliche Geburt, Fruchtbarkeit und Jagdglück — all das packten die ersten Menschen in ihre Malereien und Figuren, auf dass diese auf magische Weise ihr Überleben sicherstellen sollten. Und auch ihren Toten gaben sie unterschiedlichste Opfergaben mit ins Grab, da damals noch die Vorstellung vorherrschte, dass das Leben nach dem Tod ein identisches Abbild des dies-seitigen Lebens sei. Reale Lebens-Welt und vorgestellte Toten-Welt verhielten sich spiegelbildlich zueinander.
Die Mittler zwischen den realen Stammes-Welten der Lebenden, der vorgestellten Geister-Welt der guten bzw. bösen Geister und Dämonen dies-seits wie jenseits der Immanenz, der Unterwelt bzw. Schatten-Welt der verstorbenen Ahnen, der Toten-Welt, ferner der Tier-Welt sowie der Welt der unsichtbaren, der transzendenten Mächte, diese spirituellen Mittler nannten bereits die ersten Frühkulturen „Schamanen“. Vom frühen 18. bis zum späten 20. Jahrhunderts werden Forscher-Generationen jedoch jenen Glauben, dass alles Seiende in der Natur beseelt sei — etwa, dass einem natürlichen Objekt eine „persönliche Seele“ oder ein „Geist“ innewohne — voreilig und abwertend als „Animismus“ bezeichnen. Ein überheblicher Ethnozentrismus; ein auf Vorurteilen basierender Theologen- bzw. Biologen-Dünkel… Sie selbst jedoch, diese ersten Frühkulturen, glaubten daran und waren davon überzeugt, dass manche ihrer Mitmenschen über besondere heilerische oder religiöse, spirituelle, rituelle Kräfte verfügen würden, die ihnen den Kontakt zur unsichtbaren, jedoch einer Erfahrung möglichen, magischen Wirklichkeit ermöglichten. Ob nun Schamane, Druide oder Priester — sie alle schienen über „magische Fähigkeiten“ zu verfügen, um mit einer höheren Wirklichkeit jenseits dieser Welt in Kontakt treten zu können. Diese Menschen genossen zu allen Zeiten — in ihren Sippen oder Stämmen, in ihren späteren Gesellschafts-Ordnungen, ja bis hinein in die Gegenwart — höchstes Ansehen und Respekt.“
Der Tod blickte gleichsam in die Fernen der eben besprochenen Zeiten. Fürwahr, es ließ sich ernsthaft bezweifeln, ob der homo sapiens im Laufe seiner eigenen Geschichte denn nun wirklich „weise“, „verständig“ oder doch wenigstens „klug“ geworden sei. Aber seine markanteste Eigenschaft konnte man ihm partout nicht absprechen: Der Mensch war das bei weitem begabteste Tier, das sich nicht nur im Hand-Werklichen sondern auch im geistigen Bereich unaufhaltsam und unumkehrbar seine schöpferische Bahn brach. Ein homo faber in vielen Bereichen, schöpferisch gestaltend auf tausenden von Ebenen. Ein Mutant, begabt mit tausenden Talenten bis hin zu einer nicht genauer erklärbaren Genialität. Vieles erlernte er; manches jedoch erfasste und erkannte er ad hoc. Wissen war sein Zauberwort… Gewiss, es war nun doch unter der Würde des Todes, dass er ein Tier unter anderen Tieren — und sei es das begabteste und klügste — ernsthaft bewundern würde. Allein, dessen Erfindungs-Reichtum ließ ihn bisweilen wohlwollend schmunzeln… Er erinnerte sich seines Zuhörers, der ihn erwartungsvoll ansah.
— Fortsetzung —