„Adam geht auf Wanderschaft“. Ein im NS-Staat verbotenes Buch Helene Christallers
Helene Christaller (1872-1953) war eine Romanautorin, die mit ihrer Familie ab 1903 das „Blauen Haus“ in Jugenheim an der Bergstraße bewohnte. Ihre Werke, einstmals viel gelesene, „relig. gestimmte Frauen- und Eheromane meist aus Pastorenhäusern, Novellen aus dem Schwarzwald, Erinnerungen und Jugendschriften“[1], sind heute nur noch in wissenschaftlichen Bibliotheken oder Antiquariaten sowie im Internetversand erhältlich. Unter der Vielzahl der erzählerischen Werke ragt der Roman „Adam geht auf Wanderschaft. Ein Lebenslauf“ aus dem Jahr 1936 heraus. Dieses Buch wurde vom NS-Staat mit dem Verdikt „wehrkraftzersetzend“ belegt und konnte deshalb in Deutschland bis 1945 nicht erscheinen. Worin besteht die Besonderheit des Romans? Der Pastorensohn Adam fühlt sich schon als Junge zum bildenden Künstler berufen. Er besucht eine Kunstgewerbeschule, wo er von Professor Kolmar in den Fächern Kleinplastik, Gravieren und Ziselieren unterrichtet wird. Die Ideale des akademischen Lehrers liegen „weitab von seiner Kunst“: idealistischer Sozialismus und christlicher Pazifismus. Kolmar verspricht sich davon „ein Tausendjähriges Reich des Friedens und der Menschen- und Völkerverbrüderung“. Adam eifert dem verehrten Lehrer auch in der Weltanschauung nach, „er ward auch Pazifist mit einem kleinen Angeschmack frommen Quäkertums“. Wie unbedarft diese Wahl noch gewesen ist, zeigt sich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als Adam sich – wie alle Schüler Kolmars – freiwillig zum Militär meldet. Beim Abschied sagt ihm Kolmar traurig: „Und vergiß nicht, daß du ein Mensch bist und daß der andere auch ein Mensch ist.“ Darauf geht Adam nicht ein, er spult nur eine Dankes-Floskel an Kolmar ab und „stürzte […] von ihm weg“.
Adams Eltern verabschieden ihren Sohn, als sein Regiment zur Front abrückt. „’Ach Gott, Bub’, klagte die Mutter und zerquetschte ihm die Hand.“ Die Erzählerin stellt die Kriegsbegeisterung der Zeit ebenso dar, wie den einfachen, aber – im wahrsten Sinne des Wortes – entwaffnenden Einwand dagegen: dass es im Krieg um Tod und Sterben geht. „’Wenn ich fünf Söhne hätte, ich würde sie mit Freuden fürs Vaterland geben’, rühmte sich eine vornehm gekleidete Dame mit glühendem, begeistertem Gesicht.“ […] „’Ich nicht’, antwortete die Pfarrfrau mutig, ‚Kind ist Kind; wir gebären unsre Kinder fürs Leben, nicht für den Tod.’“ Auch eine Kommilitonin Adams mit Namen Gertrud, aber nur Gert genannt, ist aus verstohlener Liebe zu ihm erschienen und küsst ihn in einem von den Eltern Adams unbeobachteten Moment „scheu und doch innig, keusch und doch in Glut des Herzens.“ Adams Mutter hat es aber doch gesehen und freut sich darüber. „Ich bin so glücklich, daß du das noch erlebt hast, Adam […] Das, das war so schön. Das liebe Kind! Gott segne sie!“
Die Kriegserlebnisse Adams geben den kritischen Stimmen seines Professors und seiner Mutter Recht. Insbesondere ein Vorfall traumatisiert Adam: Er wird – als sicherster Schütze seiner Kompanie – von „einem jungen scharfen Hauptmann“ abkommandiert, feindliche Soldaten „niederzuknallen“, die allmorgendlich aus einem schmalen Bach Wasser holen. Auch die eigenen Leute holen sich von dort Wasser, „und wie auf eine Verabredung hin ließ man sich gegenseitig ungeschoren.“ Im Schutz einer „dichtbelaubten Buche“, die Adam erklettert, erschießt er insgesamt neun russische Soldaten. „Das schlummernde Raubtier war aufgewacht; das mordete aus eigner Lust, das brüllte und berauschte sich am Blut des Feindes.“ An dieser Tat leidet Adam sofort nach Rückkehr zu seiner Kompanie; während die Kameraden ihn nach der Anzahl der „Treffer“ fragen und er „nach einigem verwirrten Besinnen“ mit „neun“ antwortet, muss er „plötzlich beiseitetreten und sich erbrechen.“
Die Heimkehr des traumatisierten Täters nach Ende des Krieges ins Elternhaus kann nicht gelingen. „Heimat! Und was nun? Armes Deutschland, dessen Söhne heimkommen wie er, mit dem Wissen um den Abgrund in der Brust des Menschen, mit den Dämonen, die die Kette zerrissen hatten.“ Als der Vater ihm schließlich den Vorschlag unterbreitet, wieder an die Kunstgewerbeschule zu gehen und sein Studium zu vollenden, „lehnte der Sohn höhnisch ab.“ Er will auf Wanderschaft gehen und „Freiheit spüren. Vier Jahre lebte ich im Zwang des Kriegs, zwei Monate in den Banden der Familie…“ Der Vater ahnt die Hintergründe. „Du willst dir nur selber entfliehen.“ „Und wenn es so wäre!“, antwortet Adam und erschrickt den Vater mit einem „wilden Soldatenlachen“.
Die Kritik am Krieg bleibt im Buch präsent. „Ich bin froh, daß der Krieg aus ist; du auch, Kamerad?“, fragt ein Italiener. „Nie wieder Krieg“, bekräftigt Adam. In erlebter Rede gedenkt er der Verwüstungen, die der Krieg in ihm angerichtet hat: „Fünfundzwanzig Jahre wurde er nun alt. Was hatte er viel von seiner Jugend gehabt? Die vier Kriegsjahre brachen sein Leben entzwei wie eine tiefe, düstere Schlucht, die ein fruchtbares Gelände durchschneidet und aus der eiskalte Nebel, mephistische Gerüche, unheimliches Brüllen heraufstiegen. Gab es in der weiten Gotteswelt nichts, was diese aufgerissene Unterwelt zudecken konnte?“ In Italien reift Adam zum Kunsthandwerker und Künstler heran. Seinen längeren Aufenthalt in einem Franziskaner-Kloster vergilt er mit der Ausmalung der Klosterkapelle. Dieses Werk bringt ihm bescheidenen Ruhm und Kontakte zu einem Kunsthändler ein, wodurch sich seine finanzielle Situation bessert. Als Dank schenken ihm die Mönche ein abgelegenes kleines Haus, in das Adam einzieht. Er wünscht sich eine eigene Familie und sieht sich mit seiner Kunst in der Lage, sie zu ernähren. Seine Braut wird Gert, die er zufällig trifft, als sie mit einer Reisegruppe Italien besucht.
Dass ihn sein Kriegstrauma nicht losgelassen hat, zeigt sich in der Nacht vor der standesamtlichen Trauung. Adam berichtet Gert von seiner Schuld. Gert tröstet ihn mit der Versicherung, dass in ihrem gemeinsamen Haus niemals ein Bittsteller abgewiesen würde, ganz gleich wie armselig er daherkomme. Die Einlösung dieses Wortes fällt dem Ehepaar in den kommenden Jahren, als sich nach und nach eine kleine Kinderschar einstellt, nicht immer leicht, weil materielle Nöte nicht ausbleiben. Aber Gert spürt, wie wichtig es für die seelische Gesundung ihres Mannes ist, konsequent zu bleiben. Das Buch endet mit der Heimkehr der Familie nach Deutschland. Adam fühlt die „Dämonen und menschlichen Abgründe“, die ihn der Krieg hat schauen lassen, gebannt.
Bis zur letzten Seite des Romans dauert dieser Kampf. Die Geduld der NS-Machthaber mit dem Buch wird deutlich früher gerissen sein.
Johannes Chwalek
[1] Wilpert, Gero von: Deutsches Dichterlexikon. Biographisch-bibliographisches Handwörterbuch zur deutschen Literaturgeschichte. Stuttgart 1976, S. 114.