Adalbert Stifters Erzählung „Kalkstein“
Viel ist geschrieben worden auch über diese Erzählung Stifters, die zuerst unter dem Titel „Der arme Wohltäter“ erschienen war und dann in überarbeiteter Form und mit neuem Titel in die Sammlung „Bunte Steine“ aufgenommen wurde. Die Rezensenten nennen den Pfarrer vom Kar – womit eine trostlose Gegend bezeichnet ist, zu der sich keiner seiner Amtsbrüder gern versetzen lässt – einen Menschen, der am Leben vorbeilebt, weil er sich übertriebene Sparsamkeit auferlege, mit der Bibel als Kopfkissen auf einer Holzbank nächtige, die Mahlzeiten äußerst frugal halte und immer die gleiche einfache und graue Kleidung trage – mit einer feinen Besonderheit, auf die ich zurückkomme! Andere Rezensenten heben die Gewitterszene hervor, bei welcher der Pfarrer eine brennende Kerze ins Fenster stellt und in stiller Betrachtung so lange verharrt, bis das Gewitter vorübergezogen ist, und bringen diese Szene in Zusammenhang mit der berühmten literarischen Fehde, die Stifter mit Friedrich Hebbel geführt hat. Wieder andere Rezensenten sprechen von Ähnlichkeiten mit Werken späterer Autoren, etwa Kafkas „Schloss“ oder Erzählungen von Thomas Bernhard. Ich beschreibe hier einen Aspekt, den ich als entscheidend erachte: Stifters Erzählung ist eine Liebesgeschichte, eine der zartesten und zugleich nüchternsten, die ich kenne. Nüchtern deshalb, weil die Frau, um die es geht, längst aus dem Umkreis des Pfarrers verschwunden ist. Sie war ein Nachbarmädchen, die er in seiner Jugend sah, wenn sie schöne weiße Wäsche im Garten zum Trocknen aufhängte. Er verliebte sich in sie, konnte ihr jedoch allenfalls verstohlen die Hände durch den Zaun reichen; mehr erlaubten die Konventionen nicht. Kurze Zeit später wurde das Nachbarmädchen verheiratet, und der künftige Pfarrer wollte sich die Seele aus dem Leib weinen. Er geht seinen Weg und hat nichts dagegen, sich in eine einsame Gegend – das sogenannte Kar – beordern zu lassen. Dort versieht er Jahr um Jahr seinen Dienst und gilt als Sonderling und Geizhals. Der Ich-Erzähler, ein Landvermesser, sieht den Pfarrer zum ersten Mal bei einer Festgesellschaft, wovon sich dieser aber früh verabschiedet. Er kann noch beobachten, dass der Pfarrer unter den Ärmeln seines abgetragenen grauen Rockes feines weißes Linnen trägt, das er stets von neuem verschämt in den Ärmel zurückschiebt. Was hat es damit auf sich? Jahre später, als der Landvermesser beruflich ins Kar geschickt wird, erneuert und vertieft er die Bekanntschaft mit dem Pfarrer. Er erfährt, dass die Kinder im Kar einen weiten und gefährlichen Schulweg haben, bei dem ihnen der Pfarrer hilfreich zur Seite steht, etwa wenn der Fluss über die Ufer getreten ist, den die Kinder durchqueren müssen. Ohne auf seine Gesundheit zu achten, steht der Pfarrer im strömenden eiskalten Wasser, bis jedes der Kinder sicher ans Ufer gelangt ist. Die Gleichgültigkeit gegenüber den äußeren Dingen seines Lebens, wozu ihm anscheinend selbst noch sein Körper zählt, korrespondiert mit der einzigen Liebeserfahrung seines Lebens. Kinder konnte der Pfarrer mit seiner Jugendliebe nicht haben, aber es gibt andere Kinder, für die er nun alles geben kann. Sein angeblicher Geiz hat den einzigen Hintergrund, dass er für eine Schule sparen will, um den Kindern den langen Weg abzunehmen. Dem Landvermesser, der wieder in andere Gegenden muss, berichtet er von seinem Testament und gibt ihm eine Kopie zur Absicherung, falls sein Exemplar auf irgendeine Weise verschwinden sollte. Nach dem Tod des Pfarrers erfahren alle wenigstens zum Teil, wer er gewesen ist. Das regelrecht vom Mund abgesparte Geld reicht nicht für den Bau einer Schule, auch nicht der Verkauf der Habseligkeiten des Verstorbenen, wenn sich darunter auch das feine weiße Linnen befindet. Aber die Angelegenheit spricht sich herum und es finden sich Gönner, die gerührt spenden.
Die Rezensenten, die den Pfarrer hoffnungsloser Resignation zeihen, verstehe ich, aber sie haben Unrecht. Denn sie vergessen das feine weiße Linnen.
Johannes Chwalek