Ach, Goethe!
Einer meiner Lieblingsorte ist Malcesine am Ostufer des Gardasees. Ein kleines Städtchen, dem man sich am besten mit dem Schiff vom gegenüberliegenden Ufer, von Limone aus, nähert.
Über dem Ort thront eine alte Scaligerburg aus dem 14. Jahrhundert, die heute als Museum dient. Wenn man den Aufstieg auf den Turm nicht scheut, wird man mit einem wundervollen Ausblick belohnt. Unter einem liegt der Ort, der von oben jedes wundervolle Italien-Klischee zu erfüllen scheint, nach drei Seiten blickt man über den Gardasee hinweg und nach Osten hin erhebt sich mächtig das Massiv des Monte Baldo, auf den man, wenn man zu faul zum Wandern ist, mit der Seilbahn hinauffahren kann.
Im Innenhof der Burg befindet sich ein Denkmal, das einem merkwürdig bekannt vorkommt: Tatsächlich, es ist Goethe. Unser aller deutscher Johann Wolfgang von. Göhte. Und dann kommt man einer Anekdote auf die Spur, die um ein Haar die deutsche Kulturgeschichte umgekrempelt hätte.
1786 war Goethe mit knapp 37 Jahren in das geraten, was man heute Midlife-Crisis nennen würde und er tat das, was in persönlichen Krisen immer eine gute Idee ist: Er verkrümelte sich für längere Zeit nach Italien. Er machte Rom unsicher und geisterte auch sonst kreuz und quer durch das Land, wodurch er auch nach Malcesine gelangte. Und da es zu seiner Sinnkrise gehörte, dass er sich auch nicht völlig im Klaren war, ob er nun Dichterfürst oder doch lieber Malergenie sein wolle, zeichnete er eben auch, unter anderem die Scaligerburg.
Nun war die Region um den Gardasee seit dem Mittelalter stets ein zwischen verschiedenen Herrscherhäusern heiß umkämpftes Gebiet, kriegerisches Hin und Her war dort eher der Alltag denn die Ausnahme. Und dann kommt da so eine zwielichtige Gestalt daher und zeichnet akribisch die Festung ab, immerhin die wichtigste militärische Einrichtung des Ortes. Das konnte nur ein Spion sein. Und bei Spionen gab es seit jeher nur eine probate Verfahrensweise: Erst ein bisschen foltern und dann: Rübe runter!
Man stelle sich das vor! Goethe, unser aller Goethe, in der Blüte seiner Jugend in Italien geköpft! Gut, den Werther hatte er da schon geschrieben und auch den Götz von Berlichingen, wodurch sein am meisten gebrauchtes Zitat zumindest schon mal in der Welt wäre. Aber: Noch keine Wahlverwandtschaften. Noch keine Xenien, kein Hermann und Dorothea, kein West-Östlicher Diwan! Generationen von Schülern wären um das zweifelhafte Vergnügen gekommen, den Zauberlehrling auswendig lernen zu müssen. Legionen von Theatermachern hätten sich verzweifelt dem Trunk ergeben, weil das, was zur Not im Theater immer geht, nämlich Faust, niemals geschrieben worden wäre. Heerscharen von Literaturwissenschaftlern hätten einen anderen Beruf ergreifen müssen! Und vor dem Theater in Weimar stünde wahrscheinlich Schiller ganz allein frierend auf dem Denkmalssockel herum.
Die erfolgreichste deutsche Filmkomödie, inzwischen ist Teil 3 in Arbeit, wäre nie gedreht worden.
Man stellt sich dieses Elend lieber nicht vor.
Und was hat uns nun den Goethe gerettet? Angeblich war ein junger Mann vor Ort, der in Deutschland studiert, dort den Werther gelesen und ein wenig Deutsch gelernt hatte. Dem war unser Nationaldichter tatsächlich ein Begriff und mit seiner Hilfe konnte das Missverständnis aufgeklärt werden, Johann durfte als freier Mann wieder zurück nach Rom und später nach Weimar.
So weit, so langweilig. Zumindest, was das Ende betrifft. Das könnte ruhig ein bisschen ergreifender sein, man möchte als Reiseleiter ja spannende Geschichten erzählen. Etwa so:
Goethe hat ja auf seiner Reise nach Italien ganz neue Dinge kennengelernt, so zum Beispiel die Tatsache, dass sich Männer und Frauen nicht nur in ihrer Bekleidung, sondern auch unter dieser in einigen wichtigen Details maßgeblich unterschieden. Seine Erfahrungen auf diesem Gebiet waren bis dahin, nun ja, eher theoretisch.
Seine erste große Liebe, Charlotte Buff, machte ihm von Anfang an die Spielregeln klar: Ringelpietz ja, aber ohne Anfassen! Kurz darauf fand sich tatsächlich eine junge Dame, die Frankfurter Bankierstochter Lili Schönemann, die sich mit ihm verlobte und ihm das bieten wollte, was eine Ehefrau ihrem Gatten eben so zu bieten hat – worauf unser Johann zutiefst verstört erst einmal die Flucht in die Schweiz antrat. Die Verlobung wurde gelöst. Und später in Weimar erging es ihm mit der Frau von Stein wie schon bei Charlotte: Geistreiche Gespräche führen, tiefe Blicke aus schmachtenden Augen, aber ansonsten: Das Berühren der Figüren mit den Pfoten ist verboten.
Da kann man schon mal die Sinnkrise bekommen und nach Italien reisen. Die Römerinnen jedenfalls schienen von dem jungfräulichen Johann Wolfgang ganz begeistert zu sein und begierig darauf, ihm die wichtigste Regel vernünftiger Wissenschaft beizubringen, dass man nämlich jede Theorie sehr ausgiebig mit praktischer Erfahrung verbinden muss.
Und weil zu der praktischen Erfahrung auch der Vergleich gehört, hat Johann dann wohl auch außerhalb von Rom intensive Feldstudien getrieben. Und vielleicht hat er bei diesen Studien in Malcesine weniger die Brüstung der Festung als die Brüste einer Giovanna oder Stella gezeichnet und ist dabei erwischt worden. Als Fremdling die jungen Frauen eines Ortes nicht nur verführen, sondern sogar zeichnen: das war auch damals nicht gerade beliebt bei den Einheimischen. Kurz, Wolle hatte sich so benommen, wie man sich als Ausländer in Deutschland heute gefälligst nicht benehmen sollte. Und dafür gab es, wenn auch nicht gleich den Strick, so doch zumindest eine ordentliche Tracht Prügel.
Nun sollte sich jedoch jene bis heute unbekannte Giovanna als nicht nur schön sondern auch als klug und belesen erweisen: Natürlich kannte sie den Werther, der war ja damals in Europa bei jungen Leuten das ganz heiße Ding als Lektüre. Also las sie den wütenden gehörnten Männern des Ortes aus jenem Buche vor, womit sie schon einmal einen Teil von ihnen zu Tränen rührte und die anderen stolz machte, einen solch bekannten Mann im Ort zu haben.
Dennoch, Strafe musste sein! Giovanna erklärte daraufhin, sie werde diese selbst vollstrecken: Sie werde den Dichter schnöde verstoßen. Und, wie man dem Schluss seines Buches entnehmen könne, werde dieser daraufhin schnurstracks den Ort verlassen und sich einen stillen Ort zum Sterben suchen. Goethe gab sich alle Mühe, genau so zu gucken – das überzeugte schließlich auch noch den letzten Rachedurstigen. Goethe wurde aus dem Ort gejagt, begab sich zurück nach Rom, wo er sich allerdings mitnichten das Leben nahm, sondern selbiges weiterhin genoss. Die Ereignisse brachten ihn allerdings dazu, sich doch lieber mehr auf die Dichtkunst zu konzentrieren, denn die Malerei konnte unerwartete Scherereien bereiten.
Fortan waren die Frauengestalten in seinen Werken auch viel plastischer, eigenständige Persönlichkeiten mit Seele und Geist und Körper, nicht nur wandelnde Sprechblasen.
So macht Goethes Abenteuer in Malcesine doch viel mehr Spaß beim Erzählen, als wenn man sich an die hergebrachte Variante hält. Als Reiseleiter muss man eben alles selbst machen. Zur Not auch die Geschichte ein wenig – richtigstellen.