Stroboskop #02
Seit seiner Armeezeit, seit ziemlich genau dreißig Jahren, hat er Lotto gespielt. Immer dieselben Zahlen. Kurz nachdem er damit begonnen hatte, durfte er zusehen, wie der Waffenwart seiner Kompanie, ein eher schmächtiges Kerlchen, aus nackter Wut mit der bloßen Faust ein ziemliches Loch in die Tür seines Spindes hineinschlug. Er hatte eine Woche lang mit dem Tippen ausgesetzt, weil er vor dem Soldtag etwas knapp bei Kasse war. Diese Tür wurde noch lange wie eine Ikone dafür bewundert, wie ein Mensch in Rage über sich hinauswachsen könne.
Auch der Waffenwart hatte immer dieselben Zahlen gespielt. Und in genau dieser Pausenwoche hätte er fünf Richtige mit Zusatzzahl gehabt. Das wäre auch in der DDR eine erfreuliche Summe Geldes gewesen. Zwar hätte der Lottogewinn nicht dazu geführt, dass er auch nur einen Tag eher entlassen worden wäre, aber nach seiner Entlassung hätte er sich die ein oder andere sehr angenehme Sache leisten können. Genau aus diesem Grund spielten sie ja Lotto. Und träumten davon, was sie sich nach der Armeezeit von dem Gewinn würden kaufen können. Hatte man im Lotto nur ausreichend viel gewonnen, so bekam man, so hieß es, ein neues Auto auch ohne jahrzehntelange Voranmeldung.
Aber das ist der Fluch daran, wenn man einmal begonnen hat, immer dieselben Zahlen zu tippen, weil man sich ungeachtet aller Wahrscheinlichkeitsrechnung einredet, irgendwann müsste diese Zahlenkombination einmal an der Reihe sein: Man kann nicht einfach eine Woche aussetzen. Man hat die Zahlen immer im Kopf und die Spindtür des Waffenwartes auch.
Also hat er auch beim Studium und später im Berufsleben diese Zahlen immer weiter gespielt. Es gab immer einen kleinen Luxus, den er sich im Gewinnfall davon gönnen wollte.
Nicht, dass seine Zahlenreihe sonderlich originell gewesen wäre. Er war sich im Klaren. dass jede beliebige Kombination die gleiche Chance hatte, selbst so idiotische wie die Zahlen von eins bis sechs oder die Aneinanderreihung der sechs kleinsten Primzahlen. Es kam lediglich darauf an, eine so persönliche Kombination zu finden, dass man im Glücksfall den Gewinn nicht mit zu vielen Glücklichen teilen müsste.
Also ist er in der Familie geblieben.
Sein Vater, seine Mutter und er als Einzelkind. Alle im November geboren. Also die Elf. Und dann noch Geburtstag an drei aufeinanderfolgenden Tagen, die Mutter am 17., er selbst am 18. und sein Vater am 19. Dazu dann noch die 25 als Geburtsjahr des Vaters und die 39 für das der Mutter und fertig. Sein eigenes Geburtsjahr war auf dem Schein ohnehin nicht vorgesehen.
Sein Vater war vierzehn Jahre älter als seine Mutter. Er war im Krieg, in Kriegsgefangenschaft, und seine Mutter war, als der Krieg vorbei war, noch nicht einmal sechs Jahre alt. Kein Wunder, dass er als Jugendlicher oft das Gefühl hatte, die beiden kämen von verschiedenen Planeten. Die vierzehn Jahre Altersunterschied kamen ihm wie 100 Jahre vor. Seine Mutter war die jüngste Schwester der Frau gewesen, die sein Vater nach seiner Heimkehr geheiratet hatte und die kurz nach der Hochzeit an Lungen-TB gestorben war. Und dies blieb seine Mutter ihr Leben lang: die kleine Schwester einer Toten.
Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Jedenfalls waren das sechs sehr persönliche Zahlen. Er spielte immer nur 6 aus 49, nie Tele-Lotto 5 aus 35. Das war zwar populärer, und die Gewinnchancen zumindest für einen Dreier lagen auch höher, aber das Geburtsjahr seiner Mutter hätte nicht mehr auf den Schein gepasst, und das erschien ihm ungerecht.
Der Tippschein zu DDR-Zeiten bestand aus vier senkrechten Zehnerreihen und einem Neunerbalken rechts daneben. Auf diesem Tippschein sah die Kombination 11, 17, 18, 19, 25, 39 vollkommen harmlos aus.
Und dann kam die Wende und die alten DDR-Lottoscheine wurden durch die neuen bundesdeutschen ersetzt. Auf diesen Vordrucken befinden sich zwar ebenso 49 Zahlen, von denen man sechs ankreuzen muss. Aber diese 49 Zahlen sind quadratisch, praktisch, gut in sieben Reihen zu jeweils sieben Zahlen angeordnet.
Zunächst war er schlicht fassungslos, als er zum ersten Mal seine unschuldigen, kleinen Zahlen in den neuen Vordruck eintrug. So ein schönes, noch dazu zentriertes Kreuz! Er nahm an, jeder, der einen wirklich gottgefälligen Lottotipp abgeben möchte, der käme über kurz oder lang auf genau diese Zahlenreihe. Aus seiner ganz privaten Familienhistorie wurde, ohne dass er gefragt worden wäre, plötzlich so etwas wie ein religiöses Bekenntnis! Und das in einer Familie, die mit jeglicher Form von Kirche absolut nichts zu schaffen hatte.
Ein typischer Fall von Wechsel des Bezugssystems.
Ihm war das Ganze peinlich. Aber wechseln wollte er die Zahlen auch nicht. Der Waffenwart. Also setzte er neben dem alten Tipp drei andere, ganz harmlos und willkürlich aussehende Zahlenreihen mit auf den Schein. Musste somit den Einsatz vervierfachen, dann durch das Mittwochslotto sogar verachtfachen, nur um diesen einen, plötzlich auf so skurrile Weise symbolhaft gewordenen Tipp quasi zu verstecken. Und musste von diesem Tag an selbstverständlich auch die drei anderen Zahlenreihen Samstag für Samstag und Mittwoch für Mittwoch weitertippen.
Das hätte er bleiben lassen können.
Das, was er auf die drei anderen Zahlenreihen über die Jahre gewonnen hatte, war nicht der Rede wert. Der Gewinn lag immer deutlich unter dem Einsatz.
Doch an einem Mittwoch, Anfang Februar, meinte die Lottofee, mehr als dreißig Jahre beharrliche Treue müssten nun belohnt werden. Vielleicht wollte sie auch einen so unerschütterlichen Glauben an christliche Symbolik honorieren. Wer aus sechs Kreuzchen ein Kreuz macht, der sollte von Stund‘ an keinen Anlass mehr für Heulen und Zähneklappern haben.
Und wer, so wie er, auch noch die Superzahl richtig hatte, der durfte jauchzen und frohlocken.
Zumindest so lange, bis die Quoten bekanntgegeben wurden. Es muss mehr lottospielende Christen geben als man denkt. Die Gewinnsummen jedenfalls waren unterirdisch. Den Jackpot musste er sich mit fünfundzwanzig anderen Tippern teilen, am Ende blieb da für jeden gerade noch eine sechsstellige Summe. Und falls jemand, der nur die sechs Richtigen, aber ohne Superzahl, am Donnerstagmorgen seinem Chef frohen Mutes die Kündigung ins Gesicht geschmettert hatte, der bereute dies spätestens am Freitag bitterlich.
Er hatte beides, Zahlen und Quoten, erst am Freitagmorgen aus der Zeitung erfahren. Somit konnte er auch am Donnerstag keine Dummheiten mit dem Wissen um den Lottogewinn anstellen. Er las die Zeitung und lachte kurz, als er die Quoten sah. Dann beschloss er, diesen Gewinn als Geschenk zu sehen. Ein spätes Geschenk seiner ersten Familie.
Seine zweite Familie hatte vor etwa acht Jahren aufgehört zu existieren. Er war geschieden und vor einem halben Jahr war auch die Unterhaltspflicht für seinen Sohn ausgelaufen. Der stand inzwischen auf eigenen Füßen und hatte kein allzu großes Bedürfnis nach Anlehnung an einen Vater, den er in den vergangenen Jahren kaum gesehen hatte. Mit dem ihn wenig verband, außer vielleicht, dass auch er im November geboren war.
Was also anfangen mit diesem Geld- nun ja –segen? Das Glück hatte sich keinen dümmeren Moment aussuchen können, ihn zu treffen. Vor zehn Jahren – da hätte er mit dem Gewinn etwas Schönes mit seiner Familie unternehmen können, sie hätten sich das kleine Mehr über den Alltag hinaus gönnen können, nach dem seine Frau sich so gesehnt hatte. Dann wären sie vielleicht heute noch eine Familie. Müßig, darüber nachzudenken. Und um seine Stelle zu kündigen, dafür reichte der Gewinn nicht. Er war nicht mehr jung genug, als dass man ihm ein halbes Jahr Auszeit zugestanden hätte, in dem er dann, wie vor über zweihundert Jahren Seume, zu Fuß nach Syrakus hätte laufen können. Das war einer der Träume, die er noch hatte, und dieser Traum würde noch zehn Jahre warten müssen, bis er in Rente ging.
Was brauchte er schon? Was wünschte er sich? Selbst auf ein Auto musste man nicht mehr ewig warten, und seins war noch gut genug, ihn zuverlässig dorthin zu bringen, wo er hinwollte.
Manchmal wünschte er sich jemanden, der ihm nach Feierabend auf die Nerven ging. Aber auch das war mit der Gewinnsumme nicht zu kaufen.
Kurz dachte er daran, den Gewinn einfach nicht einzulösen. Ihn verfallen zu lassen. Doch dann besann er sich eines anderen. Er holte den Gewinn ab, ließ ihn sich bar auszahlen, steckte das Geld in eine Tüte und deponierte diese in einem Schrank voller Gerümpel. Er hätte das Geld auch spenden können, an die Kirche vielleicht. Das fehlte noch! Dann schon eher für irgendeinen guten Zweck – aber man wusste ja nie, was kommt.
Genauso wie er konnte das Geld ruhig auch noch ein paar Jahre warten.
Ein paar Scheine nahm er heraus, führ am Wochenende wie jeden Monat, in die Stadt, wo sich das Grab seiner Eltern befand. Jene Stelle, wo die beiden so unterschiedlichen Planeten nun doch eine gemeinsame Umlaufbahn gefunden hatten. Er ließ das Grab neu bepflanzen, ließ Blumen in allen Farben des Regenbogens darauf setzen. Seiner Mutter hätte das gefallen, aber sie hätte es nie laut gesagt.
Er hatte seinen Eltern ihren Anteil an dem Gewinn zurückgegeben, Einen kleinen Teil nur, aber für mehr hatten sie ohnehin keine Verwendung.
Dann fuhr er nach Hause zurück. Warten auf die Rente. Von nun an konnte er zumindest beim Lottospielen den Tipp mit dem Kreuz weglassen. Blieben noch die drei anderen Zahlenreihen, die, da war er sicher, eines Tages gezogen werden würden.