Franziska Kessel (1906-1934) / „Mainzer Geschichtsblätter“, Heft 15, 2014


Johannes Chwalek

 

„Vorläufig bin ich noch in Einzelhaft“ – Franziska Kessel (1906-1934)

 

 Unbenannt

       Portrait Franziska Kessels

(Mit freundlicher Genehmigung von

Thilo Weckmüller und Mathias Meyers)

 

Gedenken an eine Widerstandskämpferin

 

Vor dem Reichstag in Berlin stehen 96 Gedenktafeln mit Namen ehemaliger Abgeordneter, die Opfer des Nationalsozialismus wurden. Eine Tafel erinnert an Franziska Kessel. Von Juli 1932 bis März 1933 besaß sie ein Mandat für die KPD; als jüngstes Mitglied des hohen Hauses. Nach dem 30. Januar 1933 schulte Kessel kommunistische Widerstandsgruppen in der Illegalität und beteiligte sich an der Vorbereitung eines antifaschistischen Kongresses[1], der im Juni 1933 in Paris stattfand. Zu diesem Kongress konnte sie nicht mehr reisen, weil sie durch Verrat eines Überläufers am 4. April in die Fänge der Gestapo geraten war. Das OLG Darmstadt verurteilte sie wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu drei Jahren Zuchthaus. In der Haft kam Franziska Kessel „nach fürchterlichen Torturen“[2] ums Leben.

Jahrzehnte nach ihrem Tod konnten Straßen in Mainz-Hechtsheim und Frankfurt am Main-Heddernheim nur gegen kommunalpolitische Widerstände nach ihr benannt werden.[3] Die Vorbehalte betrafen die KPD-Mitgliedschaft Franziska Kessels. In den zwanziger Jahren hatte sich die KPD zum Stalinismus bekannt und war damit ebenso einem Diktator aufgesessen wie die Anhänger Hitlers. Franziska Kessel engagierte sich für die KPD jedoch nicht im Wissen um Stalins Verbrechen, die in den 1920er Jahren in der Regel nicht bekannt waren, sondern im idealistischen Streben nach sozialer Gerechtigkeit.

In der Einleitung zu dem Buch „Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus“ bemerkte der Herausgeber Martin Schumacher, das Werk sei „zum Gedenken all jener Menschen“ geschrieben worden, „die Opfer der Tyrannei wurden und ungeachtet ihrer politischen Überzeugung oder Gesinnung Anerkennung als Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes“[4] verdienten. Dieses Wort gilt für Franziska Kessel ebenso wie das eines Dozenten an der Mainzer Universität, der in einem volkskundlichen Seminar zum Thema Widerstand gegen den Hitler-Faschismus einmal äußerte: „Mehr als sein Leben kann ein Mensch nicht geben.“

Der vorliegende Bericht, erstellt mit Hilfe von Archivmaterial, Literatur und Gesprächen mit Experten[5], gliedert sich in Abschnitte über Franziska Kessels Biografie und ihre Persönlichkeit, ihre politischen Ambitionen und – mit dem größten Anteil – ihre Haft- und Leidenszeit.

 

Kindheits-, Schülerinnen- und Ausbildungsjahre

 

Franziska Kessel wurde am 6. Januar 1906 in Köln geboren und starb am 17. April 1934 im hessischen Landgerichtsgefängnis Mainz. Schon als Fünfzehnjährige trat sie, dem Vorbild ihres Vaters, des Arbeiters und SPD-Funktionärs Johann Kessel folgend, in die SPD-Jugendorganisation SAJ (Sozialistische Arbeiterjugend) ein, schloss sich 1926 dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund an und wechselte 1928 zur KPD. Einem Fragebogen des Landgerichtsgefängnisses Mainz, den die Gefangene schriftlich zu beantworten hatte, lassen sich biographische Informationen zu ihrem Herkommen und ihrer Ausbildung entnehmen.[6] Ihre Kindheits- und Schülerinnenjahre bedachte sie dabei mit folgenden Zeilen:

„Das Verhältnis der Eltern zueinander war kameradschaftlich. Mein Vater war ein ernster Mann, meine Mutter eine Frau, die nur für das Wohl der Familie lebte.“[7] Durch den Tod der Mutter sei die Familie „aufgelöst“ worden, notierte die Schreiberin weiter, ohne genauer zu sagen, wie sich diese „Auflösung“ vollzog.[8] Stattdessen ging sie noch einmal auf den Vater ein: „Uns Kinder schlug mein Vater nie, trotzdem er streng war. Großes Gewicht legte er auf Ehrlichkeit. In unserer Familie liegen keine kriminellen Delikte.“[9] Zum Tod der Mutter steht dann noch einmal der Satz: „An unserer Mutter hingen wir Kinder sehr und ihr Tod war für uns alle überaus schmerzhaft.“[10]

Die Mutter, Katharina Kessel, geb. Bremen, starb im Jahr 1921[11], als Franziska Kessel fünfzehn Jahre alt war. Der Vater, Johann Kessel, von Beruf Plattenleger und Maurer, heiratete 1925 erneut, ließ sich aber bereits 1927 wieder scheiden. Neun Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau starb er, 1930. Es war auch das Jahr, in dem seine Tochter Franziska ihre erste Haftstrafe in der Festungshaft Frankfurt-Preungesheim verbüßen musste.

Das Verhältnis der Geschwister[12] untereinander nannte die Gefangene „zufriedenstellend“ – was verwundern könnte angesichts des herzlichen Tonfalls der beiden unten stehenden Briefe Franziska Kessels an die Geschwister aus der Mainzer Zelle. Dass die Geschwister sie dort mit großer Wahrscheinlichkeit nie besuchten und auch die Beerdigung der in der Haft verstorbenen Schwester nicht übernahmen, konnte allein ökonomische Gründe haben.

„Meine Schulbildung genoß ich in der evangelischen Volksschule zu Köln a. Rh. Der Schulbesuch war regelmäßig und ich besuchte alle 8 Klassen.“[13] Während ihrer Lehrzeit habe sie drei Jahre lang eine „Fortbildungsschule“ besucht. „Auch hier waren Besuch und Leistungen zufriedenstellend.“ Trotzdem habe sie „Freude am Lernen […] nicht viel gehabt.“ Die Gründe dafür lagen nicht in intellektuellem Desinteresse, sondern in materieller Not: „Meine Schulzeit fiel in die Kriegsjahre. Besonders im Rheinland war große Not. Mir mangelte es an Kleidung und Nahrung. Mehr als einmal erlitt ich auf dem Schulhofe Ohnmachtsanfälle. Auch war meine Mutter nicht in der Lage Lebensmittel zu kaufen.“ Ignoranz der Lehrerschaft gegenüber ihrer prekären Lage wird besonders deutlich im folgenden Passus: „In Schönschreiben und Handarbeiten hatte ich schlechte Zensuren. Niemand drang darauf(,) daß ich eine Brille tragen sollte, die mir vielleicht in manchen Fächern bessere Zensuren gesichert hätte, da ich erblich schlechte Augen habe“ (eine Bemerkung, auf die noch einzugehen ist[14]). „Wir Kinder mußten außer der Schulzeit nach Kohlen und Lebensmittel(!) anstehen.“ Das Resümee der Gefangenen leuchtet unmittelbar ein: „All das machte mich bei meinem sonst gesunden Organismus müde und matt, sodaß ich immer froh war(,) wenn die Schule zu Ende war. Auch nach dem Kriege änderten sich bei uns zu Hause die Verhältnisse wirtschaftlich nicht viel.“[15]

Die Angaben Franziska Kessels über ihre Lehrzeit beantworten Fragen ebenso, wie sie welche aufwerfen: „Ich kam […] zu Tietz[16] in die Lehre. Meinem Wunsche entsprechend erlernte ich die Lebensmittelbranche. Später mußte ich der Bitte des Warenhauses entsprechend, an eine andere Abteilung. Ich kam an die Gardinenabteilung. Bei Tietz bestand ich meine Lehre sowie 4 Verkäuferinnenjahre. Auf eigenen Wunsch wurde ich entlassen und erlernte später das Haushaltswesen. Diese meine Tätigkeit dauerte 2 Jahre. Dann arbeitete ich noch in einem umfangreichen Küchenbetriebe in Freiburg i.B. als Küchenmädchen. Diese Stelle kündigte ich wegen Krankheit meines Vaters. Über alle diese meine Tätigkeiten besitze ich gute Zeugnisse.“[17]

Fragen nach ihrem Gesundheitszustand, eventuellen „besonderen Leidenschaften“ sowie ihren wirtschaftlichen Verhältnissen (auch im Bezug auf die Zeit nach der Haft) beantwortete Franziska Kessel mit dem nochmaligen Hinweis, „daß wir alle schlechte Augen haben“; dass sie „dem Alkohol und Nikotin […] nicht zugeneigt“ sei und auch „keine Neigung zu leichtem Leben und zur Trägheit“ habe. Auf ihre wirtschaftlichen Verhältnisse ging sie etwas genauer ein: „Da ich seit meinem 18. Lebensjahr allein stehe, mußte ich mich seit dieser Zeit selbst ernähren. Ich bezog ein Anfangsgehalt im 1. Verkäuferinnenjahr mit 64 Mk monatlich. Daraus ergibt sich, daß meine wirtschaftliche Lage keine gute war. Auch später war meine w. Lage stets eine ungünstige. Nach der Verbüßung meiner Festungshaft im Jahre 30-31 war ich arbeitslos und ich bezog 7.20 Mk Unterstützung die Woche.“[18]

Über ihre Vorstellungen nach der Haftentlassung befragt, gab sie zu Papier: „Meine Haftentlassung liegt noch in zu weiter Ferne, als daß man heute schon Maßnahmen zu meinem weiteren Fortkommen ergreifen könnte. Da auch bei einer eventuellen Heirat der Beruf oder die Arbeitslosigkeit des Mannes die wirtschaftliche Sicherstellung einer Frau nicht garantiert, so wäre für mich die Vermittlung einer Arbeitsstelle in meinem Berufe von Vorteil.“[19]

 

[1] In der „Pressechronik“ („Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e.V.“) findet sich über diesen Kongress folgende Notiz: „Im Pleyel-Saal in Paris endet ein am 4. Juni eröffneter Antifaschistischer Arbeiterkongreß. Die über 3000 Delegierten, meist Angehörige kommunistischer Organisationen, billigen die Herausgabe der Wochenzeitung ‚Antifaschistische Front’.“ (pressechro­nik1933.dpmu.de/2013/06/06/pressechronik-6-6-1933/)

[2] Axel Ulrich: Zum politischen Widerstand gegen das „Dritte Reich“ in Mainz. In: Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte 103 (2008), S. 215-229.

[3] AN 3262/1933, November 17/ Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945, Frankfurt am Main. (Das Sigel AN bedeutet „aus den Archivbeständen“.)

[4] Martin Schumacher (Hrsg.): M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933-1945. Düsseldorf 1991, S. 10.

[5] Für Rat und Hilfe bei der Abfassung der Arbeit danke ich dem Leiter der Geschichtswerkstatt Geschwister Scholl in Bensheim, Franz Josef Schäfer; dem Regionalen Fachberater für Geschichte in Rheinhessen, Hans Berkessel; der Leiterin des Archivs der Gedenkstätte KZ Osthofen, Angelika Arenz-Morch; Dr. Axel Ulrich vom Stadtarchiv Wiesbaden und Dr. Volker Eichler vom Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden; Dr. Wolfgang Form von der Universität Marburg; Dr. Andreas Horn vom Bundesarchiv Berlin; Thomas Altmeyer vom Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 in Frankfurt am Main; Daniel Baczyk vom „Darmstädter Echo“ sowie last but not least den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt und des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden.

[6] In einem Artikel der „Frankfurter Rundschau“ über Franziska Kessel vom 16.1.1986 ist von „wenigen fast dürren Fakten“ die Rede, „die über ihr Leben bekannt geworden“ seien. Daran hat sich nicht viel geändert. Die Archivalien – in der Regel Verfolgerakten oder durch die Verfolgung Franziska Kessel abgezwungen, wie der Fragebogen des Landgerichtsgefängnisses Mainz oder die im Gefängnis geschriebenen Briefe an die Familie – sind in verschiedenen Archiven zu finden, hauptsächlich jedoch beim Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 in Frankfurt am Main, im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden sowie im Archiv der Gedenkstätte KZ Osthofen.

[7] LA Speyer J 85 Nr. 156 Franziska Kessel (Archiv Gedenkstätte KZ Osthofen)

[8] Ein Hinweis lässt sich den „Erinnerungen an Franziska Kessel“ von Erika Buchmann entnehmen, wo es heißt: „Zissy, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, hat eine freudlose Kindheit verlebt: die Mutter starb, als sie noch ein Kind war, der Vater kümmerte sich wenig um die Familie, Zissy musste mit die Sorge um den Haushalt und die jüngeren Geschwister übernehmen. Ganz jung ging sie arbeiten.“ (AN 1480, Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 in Frankfurt am Main)

[9] LA Speyer J 85 Nr. 156 Franziska Kessel (Archiv Gedenkstätte KZ-Osthofen). In ihren Aufzeichnungen beschrieb Franziska Kessel ihren Vater noch als „Freidenker“. Alle seine Kinder seien „nicht getauft, auch ich nicht.“

[10] Ebd.

[11] Die Personenbeschreibung Franziska Kessels durch das Hessische Landgerichtsgefängnis Darmstadt vom 20. November 1933 gibt 1920 als Sterbejahr der Mutter an.

[12] Zu den Geschwistern Franziska Kessels gehörten die älteren Brüder Nikolaus und Alfred, die älteren Schwestern Lilli und Elfriede und die um zwei Jahre jüngere Schwester Emmi. (Erika Buchmann irrte daher, als sie von „jüngeren Geschwistern“ schrieb; nur Emmi war jünger als Franziska Kessel.)

[13] LA Speyer J 85 Nr. 156 Franziska Kessel (Archiv Gedenkstätte KZ Osthofen)

[14] Vgl. etwa den Bericht „Eine Sachsenhäuser Straße zum Gedenken“ in der Frankfurter Rundschau vom 16.01.1986 oder „Verhängnisvolle Frühlingssaat“ von Daniel Baczyk im Darmstädter Echo vom 23. April 2008. In beiden Artikeln wird gesagt, Franziska Kessel sei in der Haft „blind geschlagen“ worden. Auch die „Frankfurter Biographie – Personengeschichtliches Lexikon“, hrsg. Von Wolfgang Klötzer. Erster Band. A-L. 1994 (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission XIX/1) vermerkt, dass Franziska Kessel wegen schwerer Folterungen erblindet sei.

[15] LA Speyer J 85 Nr. 156 Franziska Kessel (Archiv Gedenkstätte KZ Osthofen)

[16] Nach Leonhard Tietz (1849-1914), dt. Kaufmann und Warenhaus-Unternehmer.

[17] LA Speyer J 85 Nr. 156 Franziska Kessel (Archiv Gedenkstätte KZ Osthofen)

[18] Ebd.

[19] Ebd.

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