Thomas Berger
KALLES LIST
Kalle, ein Junge von elf Jahren, war Ministrant der Gemeinde St. Pankratius in Elberstadt. Dieses in sich gekehrte Kind hatte, ohne wirklich fromm zu sein, ein hehres Ziel: den Priesterberuf. Das lag freilich noch in weiter Ferne.
Einstweilen beschäftigte ihn etwas Profanes: Er würde Hunger haben − an diesem Vormittag wie an den übrigen. Kalles Familie war arm, sein Frühstück sehr dürftig, der Schultag lang. Die Klassenkameraden waren zumeist bestens versorgt. Felix, Sohn eines Drogisten, gab Kalle einmal eine dick belegte Wurst-Stulle. Die erschien Kalle geradezu himmlisch.
Seit diesem Tag stand er früh auf, wählte stets eine andere Straße und Haustür und entwendete rasch eine der bereitgestellten Brötchentüten. Dann schlich er nach Hause und versteckte erleichtert den Fund in der Schultasche. Diese Versorgungsmaßnahmen währten länger als ein Jahr. Sie endeten erst, als eines Tages seine kleine Schwester Pia, vom Brötchenduft angelockt, schnurstracks zum Vater lief.